Die Tochter der Konkubine
Indie finden, dann kommen Sie wieder her und erzählen Sie mir, was Sie über ihn und meinen alten Freund Ben in Erfahrung gebracht haben.«
Toby hatte erreicht, dass sie eine Barkasse der Maritime Services benutzen durften, die bei steten fünfzehn Knoten sauber durch das dunkelgrüne Wasser schnitt. An diesem Morgen herrschte fast Windstille, nur gelegentlich kräuselten leichte Winde die Oberfläche. Sie waren um sechs Uhr früh aufgebrochen, als die Sonne sich noch kaum aus dem Chinesischen Meer erhoben hatte. Dem Steuermann hatte Toby unerwartet einen freien Tag beschert und saß nun mit Sing neben sich am Ruder. Rubin hatte Lilys Einladung angenommen, bei ihr im Happy Butterfly zu bleiben. Sie sagte, sie wolle die neu gewonnene Freiheit genießen, doch Sing wusste, dass sie Toby und sie aus Taktgefühl allein auf diese Reise schicken wollte.
Das riesige Massiv der Insel Lantau, deren höchster Gipfel noch immer im Dunst lag, rückte mit jedem Augenblick näher heran. Nah und fern zogen Dschunken unter Fledermaussegeln dahin. Für Sing war es einer der wichtigsten Morgen in ihrem Leben.
Mit Toby an ihrer Seite, dessen Gesicht vom Sonnenlicht in seinem Haar erhellt wurde, verspürte sie erneut das erregende Gefühl der Verbundenheit. Er trug weiße Shorts und ein weißes Hemd, dessen hochgekrempelte Ärmel sonnengebräunte Arme enthüllten. Fasziniert betrachtete sie das goldene Haar, das von seinen Handrücken bis zu seinen Ellbogen glitzerte.
Kopfschüttelnd erwiderte sie sein Lächeln. Toby drosselte die Geschwindigkeit, verlangsamte das stete Hämmern der kraftvollen Motoren und fuhr im Leerlauf durch das vertäute und verankerte Dorf des Schiffsvolks. Sing hatte kurz das flüchtige Gefühl heimzukehren. Die hölzernen Schiffskörper, zum Trocknen aufgehängte Fischernetze, der unverkennbare Geruch von Salzfisch, übers Wasser schallende Stimmen. Es glich dem Uferland des Sees und erfüllte sie einen Augenblick mit einer Sehnsucht nach einer Zeit und einem Ort, die sie nie wieder erleben würde.
Die meisten Tankas blickten nicht einmal vom Netzesäubern, Tauspleißen oder von ihren Reisschüsseln auf, als sie vorbeifuhren, andere beobachteten sie mit müßigem Argwohn. »Ich bezweifle, dass sie schon viele Regierungsboote gesehen haben, aber von der Fähre her sind sie fremde Pendler gewöhnt. Wer gute Meeresfrüchte zum halben Preis von dem in Hongkong kaufen möchte, kommt gern hierher.«
»Ich habe die Sprache des Schiffsvolks gelernt«, sagte Sing eifrig. »Wenn er hier ist, dürfte er nicht schwer zu finden sein.« Sie blickte zum Herrn der größten Dschunke auf. Der lange Wimpel seiner Sippe an der Mastspitze wies ihn als Älteren seines Volkes aus. Als sie ihn respektvoll in seinem eigenen Dialekt grüßte, lächelte er sie zahnlückig an und antwortete ihr mit einer lauten, fröhlichen Stimme, die daran gewöhnt war, über den Wind hinweg Befehle zu brüllen. Etliche Minuten führten sie eine angeregte Unterhaltung.
Nachdem sämtliche Ehrbezeigungen, Grüße, Anweisungen und Abschiedsworte ausgetauscht waren, lenkte Toby das Boot in die vom Dschunkenmeister angegebene Richtung. »Der Mann, den wir suchen, ist ihnen aufgrund der Größe und Form seiner Nase als ›Adlerschnabel‹ bekannt. Man kann ihn an der Landspitze finden.«
Angesichts von Tobys Gesicht lächelte sie. »Es kommt einem vor, als hätte es für eine einfache Frage viel Gerede gegeben, aber Tankas unterhalten sich nun mal erst über kleine Dinge, ehe sie antworten. Es wäre unhöflich, Ungeduld zu zeigen.«
Die Barkasse umrundete eine Felsnase und fuhr in eine kleine
Bucht ein. »Er sagt, Adlerschnabel sei ein seltsamer Mensch mit vielen Geheimnissen. Sie halten ihn für einen Geist, weder Chinese noch gwai-lo , und seine Dschunke für ein Phantomschiff aus der Vergangenheit. Aber zu ihren Kindern ist er freundlich, und Schwierigkeiten macht er auch keine.«
Sing konnte ein Kichern nicht unterdrücken. »Er sagt auch, Adlerschnabel würde hier leben, weil er auf dem Goldenen Hügel zu viele Frauen, zu viele Kinder und zu viele offene Rechnungen in den Bars hat.«
Ein einsames Schiff lag an einer Kurve des mit Treibholz übersäten Sandstrands vor Anker. »Ach, du meine Güte!«, rief Toby aus. »Verdammt, das ist ja eine lorcha , wie sie von den Portugiesen für die Piratenjagd gebaut wurde. Den Bau haben sie vor dreißig Jahren eingestellt. Dein Dschunkenkapitän hatte recht. Kommt einem wirklich vor wie ein Geist aus
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