Die Tochter der Konkubine
dankbar für diese Worte, doch ihre Schuldgefühle lasteten weiterhin auf ihr. »So Vieles ist so plötzlich geschehen, dass gar keine Zeit blieb, uns so zu unterhalten wie früher … Ist neben dir Platz für mich?«
Eine Pause entstand, und sie fragte sich, ob Rubin eingeschlafen war oder die leisen Worte in der Dunkelheit nicht mitbekommen hatte. Als sie diesmal antwortete, schwang leise Trauer mit. »Wir
haben uns ein Bett geteilt, weil dies eine Möglichkeit war zu überleben … es wurde von uns erwartet. Wenn wir dabei unser Vergnügen fanden und die Einsamkeit vertreiben konnten, lag das daran, dass wir sonst niemanden hatten, an den wir uns wenden und nirgends sonst hingehen konnten.«
Ehe Sing antworten konnte, sprach Rubin bereits wieder. Die Traurigkeit war verschwunden. »Nun liegen die Dinge anders. Ich glaube, du brauchst mich nicht mehr, und ich dich auch nicht. Der junge Herr betrachtet dich mit Zärtlichkeit. In seinen Augen ist Liebe und in seinem Herzen ein Platz für dich. Er sehnt sich danach, dich neben sich liegen zu haben. Und ich glaube, danach sehnst du dich auch.« Sie seufzte scherzhaft. »Er wird dich mehr über die Liebe lehren, als ich es je könnte.«
Rubins Worten hatte Sing nichts entgegenzusetzen, aber sie hörte die Einsamkeit heraus. »Der Fahrer hat dich auf diese Weise angesehen«, sagte sie neckend. »Hast du das nicht gemerkt?«
»Ich habe meine Chance, so etwas Wunderbares zu erleben, schon gehabt, aber es wurde mir genommen. Noch einmal erlebe ich das nicht.« Sie schwieg eine Weile, und der Schatten einer Eule flog am Fenster vorbei. »Ich betrachte die Liebe als seltensten, schönsten Vogel … wunderbar anzuschauen und anzuhören, doch immer außer Reichweite. Von Geburt an, so wir denn leben dürfen, ist unsere Keuschheit unser einziger Wert. Mit ihr wird gehandelt, und mit ihr werden Geschäfte gemacht wie mit einem Meter Seide oder einem Krug Wein. Solange wir unberührt sind, lassen sie uns nicht in Ruhe, bis ein Mann, der zwar alt und unangenehm, aber reich genug ist zu zahlen, uns schmerzvoll und gedankenlos nimmt, damit wir ihm Kraft schenken … danach sind wir vergessen.«
Sie drehte sich in ihrem Bett herum und sagte dann ohne eine Spur von Bitterkeit: »Siu-Sing, liege mit dem jungen Herrn. Er ist sauber und freundlich, und ich glaube, er liebt dich aufrichtig.« Sie gähnte. »Bald wirst du deinen Vater finden. Ich bin damit zufrieden, dich glücklich zu sehen.«
An ihrem fünften Tag im Tal ließ Hundegebell Sing aus dem Fenster blicken. Das Motorengeheul des Armeefahrzeugs wurde über die Felder getragen, als es fortfuhr und Toby zurückließ, der nun den Weg durch das Gerstenfeld nahm.
Es war ein Festtag, der Tag der Hungrigen Geister. Po-Lok und seine Familie waren schon früh in das Fischerdorf Tai-Po aufgebrochen, eine Reise von zwei Meilen mit dem Ochsenkarren, der mit Markterzeugnissen und aufgeregten Enkelkindern in Festtagskleidung beladen war. Als hätte sie gewusst, dass Toby an diesem Tag kommen würde, war Rubin mitgefahren.
Ehe sie sich’s versah, lief Sing ihm entgegen. Er schritt weit und locker aus, hatte ein mit braunem Papier eingewickeltes, großes Paket unter einen Arm geklemmt und schwang mit dem anderen ein kurzes, lederummanteltes Offiziersstöckchen.
»Bin ich es, über dessen Anblick du dich so freust … oder die Nachrichten, die ich bringen könnte?«, rief er ihr freudig zu.
»Beides natürlich«, antwortete sie atemlos.
Neben dem Mühlenteich blieb er einen Augenblick stehen und beobachtete eine Familie von Teichhühnern, die zwischen den Hyazinthen tauchten. »Kann es etwas Idyllischeres geben als dieses friedliche Tal?« Er folgte ihr mit eingezogenem Kopf ins Haus. Er warf sein Gepäck auf den Tisch am Fenster, zog sich einen Holzstuhl über die Steinfliesen heran und blickte sich dabei in dem kleinen Raum mit seinem hellen Fenster, dem sauber gefegten Boden und den Töpfen mit frisch gesammelten Orangenblüten um.
»Der Farbe deiner Wangen und dem Leuchten deiner Augen nach zu urteilen, scheint der Ort hier dir gut zu bekommen.«
»Wir werden es Geißblatt-Haus nennen.« Sie brachte einen Tonkrug mit Orangensaft an den Tisch am Fenster. »Rubin hat ihn frisch gepresst, ehe sie heute Morgen aufgebrochen ist.«
Er machte es sich auf dem Stuhl bequem und warf den Stock neben das Paket auf den Tisch. »Ich habe Neuigkeiten, was unsere Nachforschungen angeht … Über manches davon wirst du dich freuen.«
Sing
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