Die Tochter der Suendenheilerin
Gegner überlegen. Vermutlich legte ihre Mutter ihm deshalb keine Zügel an.
Was auch immer Lena Rudolf aufgetragen hatte, er behielt es für sich. Alexander nahm ihm die Geheimniskrämerei übel, aber Rudolf lachte darüber nur. »Ihr erfahrt es morgen früh«, antwortete er geheimnisvoll und machte sich daran, seine Waffen und sein Pferd für den ersten Turniertag vorzubereiten. Dieser erste Tag war den Geschicklichkeitsproben vorbehalten. Die Ritter zeigten ihr Können und die Beherrschung ihrer Pferde, indem sie kleine Ringe mit der Lanze pflückten, wie Sachmet es versucht hatte, aber auch gegen Schwingpuppen ritten oder Blütenkränze für die Damen errangen. Die echten Kämpfe begannen erst am zweiten Tag.
Während Antonia eines ihrer schönsten Kleider anlegte, einen königsblauen Surcot mit üppiger Silberstickerei, und ihr langes schwarzes Haar mit einem silbernen Reif bändigte, musste sie immer wieder an Stephan denken. Unschlüssig wand sie das blaue Band, das aus dem gleichen Stoff wie ihr Kleid gefertigt war, um ihr rechtes Handgelenk. Wie gern hätte sie Stephan in strahlender Rüstung aufs Turniergeviert galoppieren sehen und ihm dieses Band zu Beginn des Turniers um die Lanzenspitze geschlungen. Aber er war nicht gekommen, und vermutlich erwartete nun Christian dieses Zeichen ihrer Gunst. Sie hatte während des ganzen Vormittags gegrübelt, wie sie diese Geste umgehen konnte, ohne Christian zu kränken. Sie hatte sogar überlegt, ob sie ihn nicht vor dem Turnier aufsuchen und bitten sollte, ihr nicht die Lanze entgegenzuhalten. Doch so viel Mut brachte sie nicht auf.
»Denkst du an deinen Liebsten?«
Antonia fuhr herum. Meret stand hinter ihr. Aus den Augen der Elfjährigen leuchtete der Schalk, aber das sah nur, wer sie kannte. Für Fremde war sie ein reizendes Mädchen mit langem goldenem Haar, dessen Flut sich wie Sonnenstrahlen über ihre hellgrüne Suckenie ergoss. Einige Jahre später, und kein Mann würde seinen Blick von Meret abwenden können, ohne vor Sehnsucht zu vergehen. Antonia bemerkte das hellgrüne Band, das Meret trug.
»Und wer ist dein Liebster?«
»Ach, das … das ist nichts!« Hastig ließ ihre kleine Schwester das Band verschwinden. »Schade, dass Stephan noch nicht da ist, nicht wahr?«, sagte sie dann.
»Ja.« Antonia nickte. »Allmählich mache ich mir Sorgen. Er müsste längst wieder zurück sein.« Ihr Blick schweifte über das Turnierfeld. Die ersten Zuschauer hatten sich eingefunden, vor allem die Stehplätze für das gemeine Volk waren bereits überfüllt. Jeder wollte einen guten Blick auf die Kämpfer erhaschen. Die Tribüne für den Adel war noch recht leer. Auf einer der Bänke erkannte Antonia Richards Frau Fronika mit ihren drei kleinen Töchtern. Neben ihr saß eine junge Frau, die Antonia unbekannt war. Vermutlich eine Verwandte oder die Verlobte von Stephans zweitältestem Bruder Michael. Nun, das würde sie noch erfahren. Von den Regensteinern war niemand zu sehen, und auch ihre Mutter und Sachmet fehlten noch, ebenso wie der Herzog von Halberstadt. Der würde dem Turnier zur Beendigung der Fehde unter seinen Vasallen selbstverständlich beiwohnen. Dafür sah Antonia, wie sich Graf Johann von Hohnstein mit seiner Gemahlin Mechthild und ihren beiden Töchtern Maria Amalia und Julia der Tribüne näherte. Maria Amalia führte ihren dreijährigen Sohn an der Hand. Antonias Blick wanderte zurück zu Johann. Er war so alt wie ihr Vater, aber die Jahre waren nicht so gnädig mit ihm verfahren. Sein Haar war vollständig ergraut, und er neigte zur Fettleibigkeit, seit er bei einem Reitunfall vor drei Jahren einen folgenschweren Beinbruch erlitten hatte, der ihn an den Stock zwang. Dennoch schien er sich in seiner Rolle als Großvater ebenso wohlzufühlen wie zu jenen Zeiten, da er selbst noch Turniere bestritten hatte.
»Wartet auf uns!« Das war Sachmets Stimme. Antonia wandte sich um, und für einen Augenblick stockte ihr fast der Atem. Jeder wusste, dass Sachmet eine schöne Frau war. Aber so wie heute hatte sie sie noch nie zuvor gesehen. Die junge Ägypterin trug ein orientalisches Prunkgewand aus roter Seide, das ihren Körper umschmeichelte und seine Rundungen betonte, ohne unschicklich zu wirken. In ihrem Haar steckte ein goldenes Diadem, an dem von hinten ein hauchzarter roter Schleier befestigt war, der über ihr Haar fiel und seine Fülle dabei eher hervorhob als verdeckte. Dazu trug sie einen Gürtel, der mit zahlreichen Edelsteinen besetzt
Weitere Kostenlose Bücher