Die Tochter der Tryll Bd. 3 - Vereint
Kind warst, saß sie stundenlang in ihrem Salon und hat dich gemalt. Sie hat all ihre Energie darauf konzentriert, dich zu sehen.«
»S ie hat mich gemalt?«, fragte ich überrascht.
»W usstest du das nicht?«
Ich schüttelte den Kopf. »S ie hat es nie erwähnt.«
»K omm mit. Ich zeige es dir.«
Garrett ging den Flur entlang und ich begleitete ihn. Den verschlossenen Raum im Nordflügel, in dem Elora ihre prophetischen Bilder aufbewahrte, kannte ich bereits. Aber Bilder aus meiner Kindheit hatte ich dort nicht gesehen. Dort lagen nur Gemälde aus meiner Teenagerzeit.
Garrett führte mich bis ans Ende des Flures. Ganz am Ende, auf der anderen Seite meines alten Zimmers, drückte Garrett gegen die Wand. Mir war nicht klar, was er da tat, aber dann schwang ein Teil der Vertäfelung zurück. Er hatte eine Geheimtür geöffnet, die mit bloßem Auge fast nicht zu sehen gewesen war.
»I ch wusste nicht, dass da eine Tür ist«, sagte ich geschockt.
»W enn du erst Königin bist, werde ich dir alle Geheimnisse des Palasts zeigen.« Garrett hielt mir die Tür auf. »U nd glaube mir, da gibt es noch so einige.«
Ich ging durch die Türöffnung und stand in einem kleinen Raum, der nur eine enge Wendeltreppe enthielt. Ich warf Garrett einen Blick über die Schulter zu, aber er bedeutete mir, voranzugehen. Er stieg hinter mir die quietschende Eisentreppe hinauf.
Schon bevor wir oben ankamen, konnte ich die Bilder sehen. Ich betrat den Dielenboden und stand in einem kleinen, geheimen Dachbodenzimmer mit spitzen Giebelwänden. Der Raum wurde durch Oberlichter erhellt, und jeder Meter Wandfläche war mit Bildern behängt, zwischen denen nur ein paar Zentimeter Abstand herrschten. All diese Bilder zeigten mich, und Eloras meisterhafte Strichführung ließ sie so lebensecht wirken wie Fotografien. Sie zeigten mich in allen Stadien meiner Entwicklung. Als Baby bei einer Geburtstagsparty, das Gesicht voller Sahnetorte. Als Dreijährige mit aufgeschürftem Knie, auf das Maggie gerade ein Pflaster klebte. Als Achtjährige mit verrutschtem Tutu bei einer katastrophalen Ballettaufführung. Als tropfnasse Fünfzehnjährige, die auf dem Heimweg von der Schule in einen Regenguss geraten war.
Ich saß in unserem Garten auf einer Schaukel und Matt schubste mich an. Ich las als Zwölfjährige Es im Licht einer Taschenlampe unter der Bettdecke.
»W ie ist das möglich?«, fragte ich fassungslos und starrte die Gemälde an. »W ie hat sie das geschafft? Elora hat mir gesagt, sie könne sich ihre Visionen nicht aussuchen?«
»D as konnte sie eigentlich auch nicht«, sagte Garrett. »S ie konnte sich nicht aussuchen, wann sie dich sah, und es kostete sie eine Menge Energie, ihre Fähigkeiten auf dich zu konzentrieren. Aber … das war es ihr wert. Nur so konnte sie dich aufwachsen sehen.«
»E s kostete sie viel Energie?« Mit Tränen in den Augen sah ich Garrett an. »D u meinst, es hat sie altern lassen.« Ich deutete auf die Wände. »D eshalb sah sie bei unserer ersten Begegnung aus wie eine Fünfzigjährige? Deshalb ist sie mit neununddreißig an Altersschwäche gestorben?«
»S o darfst du es nicht sehen, Wendy«, sagte Garrett kopfschüttelnd. »S ie hat dich geliebt und musste dich sehen. Sie musste sich davon überzeugen, dass es dir gut geht. Also hat sie diese Bilder gemalt. Sie wusste, welche Konsequenzen es haben würde, und sie hat sie gerne in Kauf genommen.«
Zum ersten Mal wurde mir wirklich klar, was ich verloren hatte: Ich hatte eine Mutter gehabt, die mich mein Leben lang geliebt hatte. Und ich hatte nur so wenig Zeit mit ihr verbringen dürfen. Ich lernte sie erst richtig kennen, als es bereits zu spät war.
Ich begann zu schluchzen und Garrett kam zu mir. Ungeschickt nahm er mich in die Arme und ließ mich an seiner Schulter weinen.
Als ich keine Tränen mehr hatte, brachte er mich in mein Zimmer zurück. Er entschuldigte sich dafür, dass er mich traurig gemacht hatte, aber ich war ihm dankbar, dass ich von den Bildern erfahren hatte. Dann ging ich ins Bett und versuchte, mich nicht in den Schlaf zu weinen.
Morgens stand ich früh auf, denn ich wusste, dass ich viel zu tun hatte. Ich wollte in die Küche gehen, um mir etwas zum Frühstück zu holen, kam aber nur bis zur Treppe, als ich aufgebrachte Stimmen aus der Eingangshalle hörte. Ich blieb stehen und schaute über das Geländer, weil ich wissen wollte, worum es ging.
Thomas sprach mit seiner Frau Annali und seiner zwölfjährigen Tochter Ember,
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