Die Tochter der Wälder
nicht schon längst gesagt hatte, ich sollte aufhören und ihn in Ruhe lassen. Er hatte keinen Grund, mir zu vertrauen.
Es brauchte eine Weile. Ich lernte einen weiteren britischen Fluch. Davon abgesehen blieb er still, obwohl ich hörte, wie sein Atem sich veränderte, und sein Gesicht war schweißfeucht. Meine Hände waren nicht so geschickt wie früher, aber es war einige Zeit her, dass ich Mieren gesponnen oder gewebt hatte, denn ich hatte in meinem Elend meine Aufgabe vernachlässigt, und die Schwellung meiner Finger war ein wenig abgeklungen. Das war gut so, denn es war schwierig. Das kleine Metallstück saß tief, und meine Hände waren beide blutig bis zu den Gelenken, ehe ich es herausgeholt hatte. Wieder säuberte ich die Wunde mit frischem Wasser und trocknete sie, so gut ich konnte. Es gab keine Kamille, keinen Lavendel, keine Wacholderbeeren. Ich holte ein paarmal tief Luft, dann holte ich eine Knochennadel heraus, die kleinste, die ich hatte. Und in meinem Rucksack war noch eine Spule Faden, Faden, der nicht aus Miere gesponnen war, sondern weich und fest. Ich biss die Zähne zusammen und machte mich an die Arbeit. Er versuchte angestrengt, gleichmäßig zu atmen, aber es kostete ihn viel. Ich eilte nicht; ich musste so sorgfältig und ordentlich arbeiten, wie ich konnte. Er würde eine Narbe zurückbehalten, aber sein Bein würde heilen. Dann war ich fertig, biss den Faden ab und spürte, wie er meine Hand in seine nahm.
»Sag mir«, meinte er, »wieso hat ein Mädchen aus guter Familie, mit Haut so weiß wie frischer Milch, Hände wie ein Fischerweib? Wer hat dich so gestraft? Dein Verbrechen muss wirklich schrecklich gewesen sein.«
Damit war meine Kraft am Ende. Ganz plötzlich überwältigten mich Hunger und Schreck und Erschöpfung, und ich sank auf den Boden, so weit weg von ihm, wie ich konnte, und schlug die Hände vors Gesicht, als bittere, lautlose Tränen mir über die Wangen liefen. Ich war nicht wütend auf ihn oder auf die Männer, die uns angegriffen hatten, oder auf irgendjemanden überhaupt. Ich war durchnässt und elend und müde, und ich wollte meine Brüder zurück und meinen kleinen Garten und meinen Hund und imstande sein, Geschichten zu erzählen und zu lachen. Ich weinte voller Selbstmitleid und weil ich wusste, dass es keinen Weg zurück gab. Man wählte seinen Weg, und das war alles. Ich weinte um Vater Brien und um Linn und um das, was meine Brüder einmal gewesen waren, und um meine eigene verlorene Unschuld. Ich weinte, weil ich hässliche Hände hatte. Ich war immerhin erst vierzehn.
»Es tut mir Leid«, sagte er. Es half nicht viel. Jetzt, wo ich angefangen hatte zu weinen, konnte ich kaum mehr aufhören. Ganz ähnlich wie bei einem kleinen Kind, dessen Kummer oft länger andauert als die eigentliche Verletzung, da das Weinen selbst immer neue Tränen hervorbringt. Ich weinte, bis mir der Kopf wehtat und ich Sterne sah, und endlich legte ich mich auf den harten Stein und schlief, immer noch schniefend, ein. Danach musste er sich gezwungen haben, sich zu bewegen, um mich mit einem Umhang zuzudecken und mir ein zusammengefaltetes Hemd unter den Kopf zu schieben, denn so erwachte ich sehr viel später. Es war überall dunkel, es war Nacht. Einen Augenblick lang wusste ich nicht, wo ich war, und tastete in wilder Panik um mich. Ich zwang mich, ruhig zu sitzen und langsam zu atmen. Nach einer Weile hatten sich meine Augen an das Mondlicht gewöhnt, dessen dünne Finger durch das Laub am Höhleneingang krochen, und in dieser trüben Beleuchtung konnte ich den Briten sehen, der schlafend an der anderen Höhlenwand lag, mit bleichem Gesicht, die Lider schwer im Schlaf vollkommener Erschöpfung. Sein Verband schien, nach allem, was ich sehen konnte, sauber zu sein. Keine weitere Blutung. Das war gut.
Ich blieb eine Weile sitzen, während das Licht langsam heller wurde und leise Geräusche an mein Bewusstsein drangen. Eine Eule rief ganz in der Nähe. Hoch über mir musste es einen anderen Höhleneingang geben, denn ich spürte eher, als dass ich hörte, wie sich Unmengen winziger Geschöpfe hinein- und hinausbewegten, ein knarrendes, raschelndes Geräusch. Und weiter hinten, weiter entfernt, ein anhaltendes Brausen, ein großes, gedämpftes, endloses Sich-Bewegen. Das Meer. Das Meer war so groß, dass es keine Grenzen hatte; es erstreckte sich nach Westen, zu den Inseln der alten Geschichten, es zeigte einen schimmernden, mondbeleuchteten Weg nach Osten; zum Heim des Briten.
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