Die Tochter der Wälder
geformt. Lautlos sprach ich ihre Namen. Liam, Diarmid, Cormack, Conor, Finbar, Padraic. Ich sah ihre Gesichter vor meinem geistigen Auge, sechs Versionen desselben Gesichts, aber so unterschiedlich. Es war nicht mehr lange bis Mittwinter. Wie sollte ich sie finden? In meiner Truhe lagen immer noch nur drei Hemden, dazu ein Teil des Vierten. Bald würde ich keine Mieren mehr haben. Wie sollte ich sie sammeln, wenn der Wind draußen die Büsche fast flach auf den Boden peitschte und das Wasser in den Furchen der brachliegenden Felder gefror? Endlich schlief ich ein, immer noch mit dem Gesicht zur Kerzenflamme, zusammengerollt neben der kleinen Alys, und die Namen meiner Brüder hallten wider in meinem Kopf, als ob ich sie schon durch das Aussprechen ein wenig länger am Leben halten konnte.
KAPITEL 9
Das Wetter wurde schlechter und die Tage kürzer. Am Morgen war der Boden mit Reif bedeckt, und die Giebel der Scheune glitzerten vor Eiszapfen. Es war im warmen Wetter des Herbstes schwierig genug gewesen, mit meinen geschwollenen Händen Spinnrocken und Spindel zu benutzen, das Schiffchen durch den Webstuhl zu führen oder einen Faden einzufädeln. Nun spürte ich ein dumpfes Pochen in meinen Gelenken, das nicht mehr verschwinden wollte, selbst wenn ich mich ausruhte. An den schlimmsten Tagen, wenn draußen der Schnee fiel und selbst an Mittag Laternen zur Arbeit notwendig waren, musste ich mich ungeheuer anstrengen, um überhaupt weiterzuarbeiten. Margery wusste inzwischen, dass ich von niemandem Hilfe annahm. Sie konnte nur bei mir sitzen und mir leise etwas erzählen, und ich fand ihre Gegenwart tröstlich. Aber ich war langsam, zu langsam. Es war ein Feuer angezündet worden, und die Frauen rückten näher zur Feuerstelle. Nicht ich jedoch, weil ich die misstrauischen Blicke und die spitzen Zungen fürchtete, die nur in Lady Annes Gegenwart nachließen. Ich mochte die kleinen Gesten nicht, die sie machten, wenn sie glaubten, dass ich nicht hinsah. Ich arbeitete so stetig, wie ich konnte, und ich sah durch das Fenster, wie Mittwinter näher kam. Weil ich nicht länger wagte, darüber nachzudenken, wie lange meine Arbeit insgesamt dauern würde, setzte ich mir ein kleineres Ziel. Ich würde Conors Hemd bis Meán Geimhridh, zur Wintersonnenwende, beenden.
Im Haus eingeschlossen, fanden die Männer eine neue Möglichkeit, sich zu beschäftigen. Sie räumten die große Halle leer und benutzten sie für alle möglichen Formen des Zweikampfs, bewaffnet und unbewaffnet. Nach einem oder zwei Fehlschüssen befahl Lady Anne, dass die Wandbehänge abgehängt werden sollten.
Ich begann zu erkennen, wo der Rote diese Fähigkeiten entwickelt hatte, die ich bei unserer Flucht zum Meer beobachtet hatte. Die Männer übten mit Schwertern, mit Dolchen und mit Stöcken. Sie rangen und benutzten Hände und Füße als Waffen. Meine Brüder hätten hier den einen oder anderen Trick lernen können.
Gelangweilt von der Näharbeit des Morgens standen die Mädchen häufig in der Tür zusammengedrängt und keuchten erschrocken, wenn Ben einen lang gezogenen Sprung unter Johns Schwertstreich hindurchführte, gefolgt von einem Tritt, der den Dolch seines Angreifers durch die Luft fliegen ließ, gefährlich nah an den bewundernden Gesichtern der Zuschauerinnen vorbei. Oder sie stießen leise Schreie aus, als der Rote seine Methode demonstrierte, der Umklammerung eines sehr entschlossenen Feindes zu entkommen – ein wirkungsvolles Manöver, wenn auch unmoralisch. Und es waren nicht nur jene drei, die ihre Zeit auf solche Weise nutzten. Der Rote hatte eine kleine, aber tödliche Kampftruppe, von denen jeder, wie ich dachte, Cormack noch etwas hätte beibringen können. Und das wollte viel heißen. Es faszinierte mich, dass diese Kuhhirten und Waldarbeiter und Müller imstande waren, sich innerhalb von Augenblicken in fähige Krieger zu verwandeln. Lord Richard hatte den Roten wegen seines Zögerns, sich dem Feind zu stellen, verspottet. Aber ich dachte, wenn die Zeit kommt, wird er bereit sein. Wie schon zuvor. Wäre ich sein Feind, wäre ich vorsichtig mit abschätzigen Bemerkungen. Ich brauchte einige Zeit, um mich zu erinnern, dass ich und mein Volk tatsächlich der Feind waren; ich war beinahe in die Falle gegangen, zu glauben, dass ich hierher gehörte.
Dass dies weit von der Wahrheit entfernt war, sollte ich bald genug von neuem erfahren. Lady Anne war seit dem Besuch ihres Bruders ein wenig aufgetaut, aber nur ein wenig. Ich denke,
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