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Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)

Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)

Titel: Die Tochter des Hauslehrers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Klassen
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»Phillip, es tut mir leid. Ich habe vorhin die Beherrschung verloren.«
    »Bei mir brauchst du dich nicht zu entschuldigen.«
    Henry sah ihn an. »Wenn du damit andeuten willst, dass ich mich bei Lady Weston entschuldigen soll – das wird noch warten müssen. Ich habe mich noch nicht so weit beruhigt, um es auch nur zu versuchen.«
    »Das merke ich. Ich habe dich nicht mehr so aufgebracht gesehen, seit sie dir gesagt haben, dass du fortkommst, auf eine Schule.«
    Henry schnaubte. »Daran erinnerst du dich noch?«
    »Es hat einen bleibenden Eindruck auf meiner zehnjährigen Persönlichkeit hinterlassen.« Phillip schauderte theatralisch, dann wurde er wieder ernst. »Es ärgert sie immer noch, weißt du?«
    »Was?«
    »Dass du dich immer geweigert hast, sie Mutter zu nennen.«
    Henry seufzte gereizt auf. »Alles, was ich tue oder nicht tue, scheint sie zu ärgern.«
    Phillip fuhr fort, als hätte er nichts gehört. »Liegt es daran, dass du dich an deine eigene Mutter erinnerst?«
    »Ich glaube. Daran und an der Tatsache, dass Violet Weston und ich einander noch nie gemocht haben.«
    »Ich glaube, es ist nicht der Punkt, dass sie dich nicht mag, Henry«, sagte Phillip ruhig. »Eher, dass du sie nie vergessen lässt, dass sie nicht deine Mutter ist und es auch nie sein wird.«
    Die Worte seines Bruders, so freundlich gesprochen, setzten sich in Henrys Herz fest. Er wollte sie abschütteln, doch es gelang ihm nicht.
    Sie kamen zum Treppenabsatz. Henry trat in den Alkoven vor das Porträt seiner Mutter.
    Phillip starrte es an und seufzte. »Ich wünschte, ich könnte mich auch an sie erinnern. Du musst mich für sehr schwach gehalten haben, weil ich immer versucht habe, Violet Westons Zuneigung zu gewinnen.«
    Angesichts des bedrückten Gesichtsausdrucks seines Bruders meldete sich Henrys Gewissen zurück. »Nein, Phillip. Du meine Güte, du warst doch noch ein Kleinkind, als Mama starb. Natürlich hast du eine Mutter gebraucht.«
    »Und du nicht?«
    Henry wandte den Blick von den wissenden blauen Augen seines Bruders ab.
    Phillip ließ das Thema fallen. »Vater hat mir erzählt, dass Mutter mich immer ihren ›Zwerg‹ genannt hat, aber wenn ich versuche, mich an sie zu erinnern, sehe ich nur dieses Porträt von ihr und den Mund, der sich bewegt und mit Vaters Stimme im Falsettton ›mein Zwerg‹ sagt.«
    Henry lachte. »Ich weiß. Ich kann mich auch nicht an ihre Stimme erinnern. Und ihr Gesicht … das ältere, zärtlichere Gesicht, das ich kenne, verschwindet immer mehr und übrig bleibt« – er nickte zu dem Porträt hinüber – »dieses weniger bekannte.«
    Phillip sah ihn an. »Woran erinnerst du dich noch?«
    Henry dachte nach. Er erinnerte sich nicht daran, dass sie Adam weggeschickt hatte. Hatte er sie so sehr idealisiert, dass sie in seinen Augen jetzt schlicht und einfach perfekt war? Er sagte: »Ich erinnere mich, wie sie mir vorgelesen hat. Und an ihr trauriges Lächeln. An ihre großen, gütigen Augen. An ihren Duft – nach Maiglöckchen, eine Erinnerung, die natürlich durch ein gelegentliches Schnuppern an ihrem alten Parfumfläschchen immer wieder erneuert wurde.« Er sah seinen Bruder verlegen an. »Und jetzt wirst du mich für den Schwachen halten.«
    »Niemals.« Phillip schwieg kurz, dann fuhr er fort: »Darf ich vielleicht auch mal dran riechen?«
    Henry war völlig überrascht. »Natürlich. Es ist leider vor Kurzem verloren gegangen, aber sobald ich es wiedergefunden habe, gebe ich es dir. Wie selbstsüchtig, es für mich zu behalten! Aber ich dachte nicht, dass du dich erinnerst.«
    »Tu ich auch nicht«, sagte Phillip, »aber ich würde gern.«

15

    Wir haben den Trost, dass er kein schlechtes oder böses Kind sein kann.
    George Austen (Jane Austens Vater) über seinen
fern von der Familie aufwachsenden Sohn.
    Am nächsten Tag, nachmittags, fand Lizzie Emma im Schulzimmer, kurz nachdem die Jungen für heute entlassen worden waren. Sie hielt einen Federballschläger unter dem Arm und einen Federball in der Hand. Mit ihrer anderen Hand streckte sie Emma ebenfalls einen Schläger hin. »Bitte sag Ja, Emma!«
    Emma starrte resigniert und wenig begeistert auf den angebotenen Schläger, doch sie konnte nicht schon wieder ablehnen, das hatte sie schon zu oft getan. Außerdem lockten die frische Luft und der Sonnenschein auch sie mehr als sonst ins Freie. Sie sehnte sich danach, die angespannte Atmosphäre des Herrenhauses und die Fragen nach Adam, die sie pausenlos bedrängten, einmal für

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