Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)
prekäre finanzielle Lage geraten ist.«
»Ich habe ihn gebeten, die Sache in die Hand zu nehmen, meine Liebe«, fügte Sir Giles eilends hinzu. »Das Ganze war ein viel zu großes Durcheinander für mich, deshalb hat er sich bereit erklärt, es zu übernehmen, obwohl er zu diesem Zeitpunkt zweifellos eigene Pläne hatte, die er daraufhin hintanstellen musste.«
Sie schniefte. »Wie dem auch sei, ich bin immer noch der Ansicht, dass Henry die Sache viel zu sehr aufbauscht. Warum konnte er nicht alles lassen, wie es war?«
»Wie es war? Wie es war! « Henrys Stimme schwoll an. »Adams Aufsichtsperson tot, er ganz allein in dem feuchten Cottage … Wenn ich nicht hingefahren wäre und ihn hergeholt hätte, wer weiß, wo er jetzt wäre?«
»In den letzten Tagen wäre mir alles außer hier lieber gewesen.«
»Das Arbeitshaus wäre Ihnen lieber gewesen?«, donnerte Henry. »Für Vaters ältesten Sohn?«
Lady Weston schüttelte den Kopf. »Natürlich habe ich nicht das Arbeitshaus gemeint. Aber er gehört nicht hierher, wie ich …«
Unter dem Tischtuch erklang plötzlich eine gedämpfte Litanei: »Nein, nein, nein …«
Was bin ich doch für ein Narr , schalt Henry sich. Er hatte ausgerechnet den Menschen vergessen, den er zu verteidigen versuchte. Die scharfen Worte und der Streit regten ihn natürlich auf. Es war wahrhaftig wie ein Sturm hier im Zimmer, in dem er sich als unfreiwilliger Zeuge aufhielt.
Henry eilte zum Tisch und ging in die Hocke. Er zog den Tischdecken-Vorhang beiseite und enthüllte Adam in Fötus-Position, die Handflächen auf die Ohren gepresst, ganz in den Sprechgesang seiner Not versunken.
Lady Weston warf einen Blick auf ihn und hob die Hände. »Oh ja. Bereit, der Königin vorgestellt zu werden, nicht wahr?« Sie rauschte an Phillip vorbei und verließ das Zimmer.
Henry wandte sich wieder an Adam. »Es tut mir leid. Der Streit ist zu Ende. Vorbei.« Er hörte, dass sein Vater sich ebenfalls zurückzog.
Henry ignorierte den Stachel der Ablehnung und fuhr fort: »Es ist alles gut. Schhhh … keine Sorge. Es ist alles in Ordnung«, sagte er, fest entschlossen, dafür zu sorgen, dass es auch tatsächlich so war.
Phillip folgte Henry, der Adam ein paar Minuten später die Treppe hinauf zurück in sein Zimmer geleitete. Als sie zum Nordflügel kamen, ging Phillip vor ihnen den Flur entlang und öffnete ihnen die Tür.
Drinnen führte Henry Adam zu seinem Lieblingsstuhl, während Phillip an den Waschtisch trat und ein Glas Wasser eingoss. Als Adam saß, legte Henry eine Kniedecke über seine Beine und Phillip reichte ihm das Wasser.
»Danke«, flüsterte Adam. Sein Kinn zitterte noch immer.
Henry sah, dass Phillip seinen ältesten Bruder anstarrte – einen Menschen, den er vor seiner Rückkehr aus Oxford noch nie gesehen hatte.
»Ich komme immer noch nicht damit klar«, sagte Phillip. »Dass es noch einen Weston gibt. Noch einen Sohn von unserer Mutter und unserem Vater.«
Henry nickte. »Ich weiß.«
Phillip wandte den Blick nicht von Adam. »Seine Gesichtszüge sind mir so vertraut. Seine Augen sind wie meine, nicht?«
Adam, der anscheinend bemerkte, dass er eingehend betrachtet wurde, blickte mit unschuldigen blauen Augen von einem Bruder zum anderen und dann auf ein Buch auf dem Tischchen. Er nahmes auf, legte es sich in den Schoß und fuhr mit der Hand immer wieder über den Einband, als könnte seine Textur, seine Vertrautheit, ihm Trost spenden.
»Ja«, gab Henry zu, »du siehst Adam ähnlicher als mir. Glückspilz!«
Phillip reagierte nicht auf das Kompliment. Er starrte Adam immer noch an. »Er sieht so … so normal aus!«
»Ich weiß«, sagte Henry. »Wenn ich ihn ansehe, sehe ich ein wenig von dir, ein wenig von Vater und hin und wieder, wenn er mal lächelt, was selten vorkommt, ein wenig von unserer Mutter.«
Phillip meinte leise: »Ich erinnere mich nicht an sie.«
Henry öffnete den Mund, um zu antworten, doch in diesem Augenblick klopfte es und Mrs Prowse betrat mit Adams Abendessen das Zimmer. Auf dem Tablett stand noch ein zweiter Teller – ihrer. Die freundliche Haushälterin nahm ihre Mahlzeiten oft zusammen mit Adam ein. Bei dem Anblick wurde Henry ganz warm ums Herz. Er schuldete der Frau viel.
Sie begrüßten sie, dankten ihr, sahen, wie die beiden sich stillvergnügt zusammen hinsetzten, und verabschiedeten sich.
Gemeinsam verließen sie langsamen Schritts den Nordflügel. Auf dem Hauptflur warf Henry seinem jüngeren Bruder einen Blick zu.
Weitere Kostenlose Bücher