Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)
einzuschreiten. Außerdem war sie nur allzu froh, dass Julian fertig war und nach unten gehen würde.
Solange er Lizzie mitnahm.
Zur vereinbarten Zeit traf Emma Henry auf dem Flur vor Adams Zimmer. Zusammen trugen sie die Koffer hinein.
Mrs Prowse saß in freundschaftlichem Schweigen bei Adam; sie stopfte, er las.
Henry sagte freundlich zu Mrs Prowse: »Wir haben ein paar neue Sachen für Adam dabei, wenn Sie also erst einmal Ihren Tee trinken möchten oder noch etwas zu tun haben …«
»Das habe ich in der Tat, Sir. Danke.« Mrs Prowse erhob sich. Sie betrachtete die Koffer – und Emma – neugierig, sagte aber nichts. Eine Haushälterin mit ihrer Erfahrung wusste es besser als der Herrschaft Fragen zu stellen.
Als die Haushälterin fort war, stellte Emma die Koffer auf den Tisch. Henry schob den zweiten Koffer zwischen den ersten und das Schachbrett. Seine Hände zitterten ein wenig, wie sie überrascht und gerührt sah. War er nervös, aufgeregt oder beides?
Adam blickte auf den ersten Koffer; zwischen seinen Brauen bildete sich eine Konzentrationsfalte. Oje . Emma hoffte inständig, dass er sich nicht aufregte. Ob er sich wohl an den Koffer erinnerte? Bestimmt nicht.
»So, Adam«, sagte Henry. »Möchtest du ihn aufmachen oder soll ich?«
»Was ist da drin?«
»Mach ihn auf und schau nach!«
Adam schien Überraschungen nicht zu lieben und Emma fürchtete schon, er würde sich weigern, doch er trat zögernd an den Tisch. Dann legte er zuerst einen Finger auf den Deckel des Koffers undbetrachtete die Verschlüsse. Danach legte er die Hände auf die beiden Schlösser und öffnete sie mit einer einzigen Bewegung. Langsam hob er den Deckel hoch und starrte auf den Inhalt.
Sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht, es kam kein Kommentar und auch keine Frage. Er stand einfach nur da und guckte. Dann berührte er vorsichtig einen Soldaten, als sei dieser eine zarte Seifenblase, wie um zu prüfen, ob sie platzen würde, sich auflösen und verschwinden.
Dann sah er Henry an; sein Mund stand halb offen.
»Es sind deine, Adam«, sagte dieser.
»Meine?« Adam starrte in den Koffer.
Henry nickte. Dann sagte er mit belegter Stimme: »Ja. Deine. Es tut mir leid, dass ich sie dir die ganze Zeit vorenthalten habe.«
Adam sagte: »Ich hatte einen. Aber ich habe ihn verloren.«
Henry sah Emma an, dann zog er langsam den Soldaten aus der Tasche, den sie in ihrem Zimmer gefunden hatte. »So einen?«
Adam blickte auf. »Ja.« Er nahm den Soldaten von Henry entgegen und legte ihn befriedigt zu einem passenden Gegenstück in den Koffer. Dann schaute er zu dem zweiten Koffer hinüber. Er ging um den Tisch herum und öffnete auch diesen Deckel.
Henry sagte: »Die hier sind neuer. Ich bekam sie, nachdem du … fort warst.«
»Deine?«, fragte Adam.
Henry zuckte die Achseln; er schien sich sehr unbehaglich zu fühlen. »Unsere«, sagte er.
Wenn Henry auf die Einladung wartete, mit seinem Bruder zu spielen, dann würde er wohl enttäuscht werden, denn Adam setzte sich hin und fing an, die Figuren zu durchwühlen und die Soldaten in Reihen aufzustellen. Es schien ihm größte Freude zu machen.
Er schob Emmas Schachspiel beiseite, ihr Geschenk war in Vergessenheit geraten angesichts eines weitaus größeren, spannenderen Spiels. Doch als sie Adams andächtige Konzentration sah und die Tränen, die in Henrys Westons Augen glitzerten, hatte sie nicht das Allergeringste dagegen einzuwenden.
18
Ein bisschen Wissen ist gefährlich …
Alexander Pope, 1709
Emma erwachte am nächsten Morgen mit einem tiefen Gefühl der Zufriedenheit. Sie erinnerte sich an den gestrigen Tag und spürte, wie ein Lächeln ihre Mundwinkel hob. Die Begegnung mit Adam war überaus befriedigend für sie gewesen. Und wenn sie ehrlich war, hatte sie auch die Zeit mit Henry Weston und seine warmen Blicke der Zustimmung und Anerkennung zutiefst genossen.
Sie stand auf, reckte und streckte sich, spürte, wie ihr Brustkorb sich weitete, ihre Wirbelsäule sich dehnte, ihre Muskeln sich entspannten. »Aaah …«, murmelte sie behaglich.
Dann sah sie es. Sie runzelte die Stirn. Wieder war etwas unter ihrer Tür hindurchgeschoben worden – ein Stück Papier im Quartformat, beschrieben, aber diesmal nicht zum Brief zusammengefaltet. Hastig ging sie aus ihrer gestreckten Stellung in die Hocke und spürte einen schmerzhaften Stich im Nacken. Doch als sie das Papier aufhob, vergaß sie den Schmerz des Augenblicks, denn das Stück Papier war die
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