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Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)

Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)

Titel: Die Tochter des Hauslehrers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Klassen
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Freundschaft.Aber vielleicht hatte sie die Situation ja missverstanden. Vielleicht hatte sie sich einfach getäuscht.
    Emma schüttelte den Kopf. Sie konnte einfach nicht glauben, dass Henry Weston eine solche Zeichnung angefertigt hatte – trotz all des Unfugs, den er früher getrieben hatte, und trotz seines aufbrausenden Temperaments; es war unvorstellbar für sie, selbst wenn er ihr tatsächlich grollte. Die Zeichnung musste ganz einfach von jemandem stammen, der das Original nie gesehen hatte. Vielleicht war es doch Adam, dachte sie. Er schien ihr zwar eines solch groben Symbolismus und einer solchen Grausamkeit nicht fähig zu sein, aber vielleicht verbarg sich doch etwas Gefährlicheres hinter seinem unschuldigen, kindlichen Äußeren.
    Sie überlegte, was sie tun sollte. Sollte sie die Zeichnung jemandem zeigen? Auf keinen Fall ihrem Vater. Er könnte denken, dass sie jemanden beleidigt hatte, und würde sich Sorgen um ihre Sicherheit machen. Doch wem konnte sie sie sonst zeigen? Lizzie? Phillip? Sollte sie es wagen, sie Henry zu zeigen?
    Bei der Vorstellung, wie Lady Westons Gesicht sich in Ablehnung verzog, sie Emma haltlose Fantastereien vorhielt oder sie sich wie eine Wölfin vor ihre »zarten« Jungen warf, verließ sie der Mut. Und ebenso wenig wollte Emma Adam beschuldigen, den sie im Grunde ihres Herzens für genauso unschuldig hielt, wie er wirkte.
    Sie dachte an die vielen Streiche zurück, die die Jungen ihr im Laufe der Jahre im Pensionat gespielt hatten. Sie hatte früh gelernt, dass es in der Regel das Beste war, ein solches Verhalten zu ignorieren. Den Jungen die erwünschte Genugtuung mädchenhaften Quietschens oder weiblichen Wutgeschreis nicht zu gönnen, war das Beste, um ihnen die Lust daran zu verderben. Dasselbe würde sie auch jetzt versuchen.
    Emma steckte die Zeichnung in ihr Tagebuch und machte sich fertig für den Tag.
    Ein paar Minuten später ging sie nach unten, frühstückte rasch und wollte gerade ins Schulzimmer hinaufgehen, als Lizzie sie auf der Treppe einholte.
    »Ach, gut, dass ich dich gefunden habe. Ich wollte dich fragen, ob du mich ins Dorf begleiten kannst. Ich muss dir unbedingt eine neue Haube zeigen, in die ich mich verliebt habe – bitte, sag Ja!«
    »Ich kann jetzt nicht, Lizzie. Ich werde im Schulzimmer gebraucht.« Als sie das niedergeschlagene Gesicht des Mädchens sah, fügte sie hinzu: »Vielleicht später.«
    Lizzie strahlte auf. »Wann?«
    »Ich weiß noch nicht. Um zehn oder elf?«
    »Gut, ich warte.« Lizzie zog eine Schnute. »Aber beeil dich. Ich werde nie begreifen, warum dein Vater nicht ohne dich unterrichten kann.«
    Emma ging hinauf ins Schulzimmer und assistierte ihrem Vater dabei, die Bedeutung des kopernikanischen Weltbilds zu erläutern, das das Gesicht der Astronomie für immer verändert hatte.
    Dann kamen sie auf den Entdecker James Cook zu sprechen, der selbst so etwas wie ein Astronom gewesen war. An dieser Stelle überließ ihr Vater Emma den Unterricht. Sie skizzierte die wichtigen Entdeckungen Cooks und seine größeren Expeditionen, wobei sie den Jungen seine Reisen auf dem Globus im Schulzimmer zeigte. Der Mann hatte so viel von der Welt gesehen, er war von England nach Südamerika, Afrika, in die Antarktis und noch weiter gereist. Was für ein Leben! Doch sie vergaß nicht, auch auf den Preis dieses abenteuerlichen Lebens hinzuweisen: Cook war im Jahr 1779 durch die Hand der Einheimischen auf den Sandwichinseln gestorben.
    Nach dem Unterricht verließ Emma das Schulzimmer und ging zu Lizzie. Auf dem Weg nach unten machte sie einen kurzen Abstecher in ihr Zimmer, um ihren Umhang, ihre Haube und Handschuhe zu holen; außerdem wollte sie ihr Tagebuch in die Kleidertruhe legen, damit es niemand sehen konnte und um nicht noch weitere »Ausleihen« zu provozieren.
    Sie öffnete die Tür, ging hinein und blieb wie vom Donner gerührt stehen, als sie Lizzie auf der Bettkante sitzen sah, ihr Tagebuch aufgeschlagen in der Hand.
    »Was machst du da?«
    Lizzie schlug das Tagebuch zu. »Tut mir leid, aber mir war langweilig. Ich warte hier schon seit einer Ewigkeit.«
    »Hat dir nie jemand gesagt, dass es sich nicht gehört, in den Sachen anderer Leute herumzuschnüffeln?«
    Lizzie zuckte die Achseln. »Nur Henry.« Sie zog die herausgerissene Seite mit der schrecklichen Zeichnung heraus und schwenkte sie wie eine Flagge. »Was ist das?«
    Emma trat vor und nahm das Blatt an sich, zugleich entriss sie ihr mit der anderen Hand das Tagebuch.

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