Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)
fehlende Seite aus ihrem Tagebuch.
Sie erkannte ihre Handschrift und las ein paar Zeilen, um ganz sicherzugehen.
Henry ist der kalte Boreas, auch wenn ich es nicht gesagt habe, als er gefragt hat. Und ja, der liebenswürdige Phillip entspricht ganz dem Bild des milden, freundlichen Zephyrs.
Emma krümmte sich von Neuem bei dem Gedanken, dass irgendjemand ihre törichten Ideen gelesen hatte.
Dann fiel ihr auf, dass von der Rückseite des Blattes rote Farbe durch das Papier hindurchschimmerte. Das war seltsam. Sie hatte doch nur in blauer Gallustinte geschrieben. Sie drehte das Blatt um und erstarrte.
Auf der Rückseite, über die Zeilen, die sie geschrieben hatte, hatte jemand ein Bild gezeichnet. Mit schwarzer Tinte und roter Farbe. Eine Schachfigur, eine weiße Königin – mit abgetrenntem Kopf. Aus dem schartigen Hals floss Blut.
Emma wurde übel. Wer hatte das gezeichnet? War es eine Drohung?
Die Tür ging auf. Emma schnappte nach Luft und fuhr herum.
Morva blieb auf der Schwelle stehen und starrte sie an. »Geht es Ihnen gut, Miss?«
»Ja, danke. Du hast mich erschreckt, das ist alles.«
Morva blickte mit geweiteten Augen auf die Zeichnung.
Emma folgte ihrem Blick und legte das Blatt rasch auf ihr Tischchen, mit der Zeichnung nach unten. »Ich werde mich schnell waschen«, sagte sie. »Ich bin ein wenig spät dran heute Morgen.«
Das Mädchen half ihr beim Ankleiden und ging. Emma nahm noch einmal die Zeichnung zur Hand. Diesmal versuchte sie, sie ganz objektiv zu betrachten, ohne den persönlichen Affront, den sie anfangs empfunden hatte.
Auf den ersten Blick schien es nichts Besonderes zu sein. Kräftige, feste Striche mit Feder und Pinsel. Das Werk eines bösartigen Jungen. Doch bei näherer Betrachtung wurde sie auf die feineren Linien aufmerksam. Die Einzelheiten stellten ganz eindeutig eine Schachfigur dar, komplett mit geschnitzten Füßen, die flach auf dem runden Sockel standen. Die statische Haltung zeigte, dass es kein lebendiger Mensch, sondern ein Gegenstand war. Oder las sie zu viel hinein? Doch, das Machwerk verriet eine gewisse Begabung, entschied sie, auch wenn der geschmacklose Blutstrahl die Linien trübte und ihnen irgendwie einen amateurhaften Anstrich verlieh. Rowan war ein Künstler; er zeichnete und malte … stammte die Zeichnung von ihm?
Doch sie durfte die Tatsache nicht ignorieren, dass die gezeichnete Figur eine Schachfigur war und dass sie Adam Weston vor Kurzem eine Schachfigur gegeben hatte. Und hatte sie nicht schon überlegt, ob Adam vielleicht die Person gewesen war, die sich in ihr Zimmer geschlichen hatte? Aber warum sollte er etwas so Furchtbares zeichnen? Würde er ihr Geschenk auf so brutale Weise vergelten?
Dann kam ihr ein anderer Gedanke. Sie nahm die Königin genauer in Augenschein – das Gewand, die Gesichtszüge und die Krone auf dem abgetrennten Kopf. Wenn sie sich nicht irrte, sah sie genauso aus wie die weiße Königin aus ihrem eigenen Schachspiel, das Stück, das seit Jahren fehlte. Wie hatte er sie so genau zeichnen können? Das Spiel war auf seine Weise einzigartig gewesen, weil der weiße König und die weiße Königin ganz anders aussahen als ihre schwarzen Gegenstücke. Die Weißen hatten die Gesichtszüge von Orientalen, die Dunklen trugen afrikanische Züge. Sie nahm an, dass jemand, der die Figuren gesehen hatte, den Stil auf die fehlende Figur übertragen konnte. Aber so genau? Sie konnte sich zwar nur auf ihr Gedächtnis verlassen, aber es bestand kein Zweifel daran, dass sie die gezeichnete Figur kannte. Erkannte, genauer gesagt.
Damit war sie wieder bei Henry Weston. Sie hatte ihn immer verdächtigt, die weiße Königin aus Rache eingesteckt zu haben, nachdem sie ihn das letzte Mal geschlagen hatte. Doch auch wenn sie recht hatte, war die Figur schon lange fort – und er hatte sie wohl kaum behalten. Aber ebenso wenig würde er sich so genau an sie erinnern. Wer sonst konnte die Zeichnung also angefertigt haben? Rowan, Julian und Adam hatten die Figur nie gesehen. Phillip ebenso wenig. Sie war ja schon verschwunden gewesen, als er nach Longstaple kam.
Sie blickte auf die enthauptete Königin und ein Schauder überlief sie. Hegte Henry Weston noch immer einen solchen Groll gegen sie? Hatte er sich im Laufe der Jahre sogar noch verstärkt? Es fiel ihr schwer, das zu glauben, vor allem, da sie in letzter Zeit ein Nachlassen der alten Spannungen registriert hatte und seit der Begegnung mit Adam sogar die ersten Anzeichen einer echten
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