Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)
defensive Tonfall ihrer Stimme und er sah sie an. »Es ist eine wahre Geschichte.« Dann registrierte er ihr abgewandtes Gesicht und ihre verkrampfte Haltung und zog fragend die Brauen hoch. »Beten Sie denn nicht, Miss Smallwood?«
Sie mied seinen Blick. »Nein.«
»Gott spricht jeden Tag zu Ihnen«, sagte er leise. »Sie könnten seine Freundlichkeit vergelten.«
Sie hob das Kinn. »Ich höre ihn nicht.«
»Hören Sie vielleicht nicht zu?«
Sie sah ihn an, eindeutig gekränkt, und wandte sich wieder ab. »Ich habe gebetet, bis ich festgestellt habe, dass Gott nicht zuhört. Jedenfalls nicht mir.«
Wider besseres Wissen platzte Henry heraus: »Aber er hat doch zugehört! Er antwortet nur nicht immer so, wie wir es von ihm erwarten.«
Sie drehte sich mit flackernden Augen zu ihm um. »Und was ist mit dem kräftigen Seemann, der ebenfalls ertrank? Hat er den Kapitän auch verflucht, weil er gebetet hat? Ist er deshalb gestorben?«
Henry schüttelte traurig den Kopf. »Wahrscheinlich nicht.«
»Warum ist er dann gestorben?«, wollte sie wissen. »Er hatte doch bestimmt eine Mutter, die für ihn betete. Oder eine Schwester.«
Henry sah, dass ihr Kinn zitterte, und ihm wurde klar, dass sie an ihre eigene Mutter dachte. In ihren Augen standen Tränen, doch sie blinzelte sie wütend fort, entschlossen, nicht vor ihm zu weinen.
»Wir leben in einer gefallenen Welt«, sagte er sanft. »Manchmal geschehen schlimme Dinge.«
»Ja«, flüsterte sie und starrte aufs Meer hinaus. »So ist es.«
Er drückte kurz ihre Hand, dann straffte er sich. »Verzeihen Sie mir, Miss Smallwood. Ihre Gebete oder auch der fehlende Austausch zwischen Gott und Ihnen gehen mich nichts an.«
Sie blickte unter feuchten Wimpern zu ihm auf und schüttelte langsam den Kopf. »Sie haben sich verändert, Mr Weston. In Longstaple haben Sie die Gottesdienste fast immer verschlafen.«
Er lachte freudlos auf. »Trotzdem war ich kein hoffnungsloser Heide, Miss Smallwood. Nur ein gelangweilter Jungspund.«
»Lizzie hat mir gesagt, dass Sie, nachdem Sie gemeinsam mit Ihrer Familie zum Gottesdienst gegangen sind, häufig noch einen wesleyanischen Gottesdienst besuchen. Darf ich fragen, warum?«
Henry nickte. Das war eine Frage, die ihm schon oft gestellt worden war. »Es ist das lebendige Singen und Predigen, das mich anzieht. Die improvisierten Gebete. Ich fühle mich dort … wach, nach Jahren des … wie Sie sagen, Schlafens. Ich empfinde größere Dankbarkeit für Gottes Liebe und Vergebung. Ich bin mir bewusst geworden, wie sehr ich ihn brauche.« Er schwieg und verzog das Gesicht. »Tut mir leid. Jetzt klinge ich schon selbst wie ein Prediger. Das müssen Sie einem wohlmeinenden Schafskopf nachsehen.«
Sie brachte ein zittriges Lächeln zustande. »Muss ich?«
»Nein.« Er lächelte reumütig. »Aber ich würde es zu schätzen wissen.«
In dieser Nacht wachte Emma abermals auf und hörte ferne Musik. Sie empfand es als angenehme Überraschung. Es war lange her, seit sie es gehört hatte, seit der »Geist« von Ebbington sie mit einem Musikstück erfreut hatte.
Sie erinnerte sich an ihr Gespräch mit Henry Weston darüber, ob Adam eine musikalische Begabung hatte oder nicht. Henry hatte es bezweifelt, doch Emma war nicht überzeugt. Da sie an ihrer Meinung über die Identität des »Geistes« festhielt, hatte sie keine Angst, sondern verspürte nur den Wunsch, ihre Annahme bestätigt zu sehen. Und die Musik besser zu hören.
Sie schlüpfte in ihren Hausmantel und zog Strümpfe an, weil sie auf Schuhe verzichten wollte.
Leise schlich sie am Zimmer ihres Vaters vorbei die Treppe hinunter. Sie kannte sich jetzt besser aus im Haus, deshalb brauchte sie diesmal keine Lampe anzuzünden, und in ihren weichen, lautlosen Strümpfen würde niemand merken, dass sie sich näherte.
Auf Zehenspitzen durchquerte sie die Halle und blieb vor dem Musikzimmer stehen … Ja, der »Geist« spielte noch. Vorsichtig, zögernd, drückte sie mit einem leisen Klicken die Türklinke hinunter und hielt wieder inne, lauschte.
Erleichterung. Er hatte sie nicht gehört, sondern spielte weiter. Ganz langsam stieß sie die Tür auf und glitt ins Zimmer. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, während sie den Rücken an die Wand drückte und ganz still dastand, im Schatten verborgen.
Als ihre Augen sich an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, sah sie, wie das Mondlicht aus dem Spiegel ganz schwach auf das Klavier und den Spieler fiel. Sie jubelte innerlich. Es war Adam,
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