Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)
ich es verstehen?«
»Nun …« Emma war verlegen. »Weil du auch deine Mutter verloren hast.«
Lizzie schnaubte nur. »Genau genommen würde ich nicht sagen, dass ich sie verloren habe. Mein Vater würde es vielleicht so bezeichnen. Er hat sie an den Mann von der Verbrauchssteuer verloren.«
Emma runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht. Ich dachte, deine beiden Eltern seien gestorben.«
Lizzie entzog Emma ihren Arm und bückte sich, um eine leicht verblühte Blume zu pflücken. »Das habe ich nie gesagt. Du hast es einfach angenommen.«
»Nein. Ich weiß genau, dass du gesagt hast, deine Mutter sei schon viel länger gegangen als meine.«
»Gegangen, ja. Aber nicht tot. Jedenfalls nicht, dass ich wüsste.«
»Und dein Vater?«
Lizzie seufzte. »Meinen Vater habe ich nie gekannt, aber ich hatte einen Stiefvater. Für kurze Zeit jedenfalls.«
»Oh. Ist er …?«
»Am Leben und wohlauf und nutzt alle unsere Beziehungen nach Kräften.«
Emma sah das Mädchen mit offenem Mund an. »Aber … ich dachte, du seist hier, weil … dass du Lady Westons Mündel bist und sie dich aufgenommen hat, nachdem …« Sie ließ die Worte verklingen.
»Lady Weston hat mich tatsächlich ›danach‹ aufgenommen«, sagte Lizzie. »Nachdem meine Mutter mit einem anderen Mann durchgebrannt war und mich mit meinem sogenannten Stiefvater hat sitzenlassen, der mich loswerden wollte.« Sie warf die Blüte wieder weg. »Wie naiv du bist!« Dabei bedachte sie Emma mit einem Blick voll überlegener Welterfahrenheit. »Du dachtest, ich sei eine Waise und die menschenfreundliche Lady Weston hätte mich aus reiner Herzensgüte aufgenommen?«
»Nun … ja.«
Lizzie schüttelte den Kopf. »Das ist eine reine Erfindung. Du hast zu viele Bücher gelesen, Emma. Das habe ich schon immer gesagt.«
Emma starrte die Fremde an, die vor ihr stand. Sie erkannte diese Lizzie Henshaw mit den blitzenden Augen, den verächtlich geschürzten Lippen und der scharfen Zunge kaum wieder.
»Schreib das in dein Tagebuch«, warf Lizzie ihr noch an den Kopf, dann wirbelte sie auf dem Absatz herum und deutete über den Garten hinweg auf den umgestürzten Turm, an dem die Arbeiten bereits wieder aufgenommen waren. »Und was den Wachturm angeht, hat Henry sich knallhart über Lady Westons Wunsch hinweggesetzt.«
Emma blinzelte; sie hatte Mühe, diesem schnellen Themenwechsel zu folgen. »Aber warum sollte sie dagegen sein? Henry hat mirerzählt, dass die Dorfbewohner ein Anrecht auf die Fracht haben, wenn es keine Überlebenden gibt, aber wieso sollte Lady Weston das kümmern?«
Lizzie schüttelte langsam den Kopf; ihre Augen glitzerten. »Und ich dachte, du seist klug.«
21
Ewiger Vater, starker Retter, der den rastlosen Wellen gebietet,
wir bitten dich, erhöre uns und schütze die Menschen,
deren Leben auf See in Gefahr ist.
William Whiting, Eternal Father, strong to save, 1860
Nach ihrem beunruhigenden Gespräch mit Lizzie im Garten ging Emma ins Haus zurück.
Da sie sich nach einer angenehmeren Begegnung sehnte, beschloss sie, Henry Weston zu suchen. Sie wollte ihn fragen, ob er wusste, dass Adam die Königin hatte. Ihr war klar, dass Henry ganz und gar nicht begeistert über weitere Fehltritte seines Bruders sein würde, gegen dessen erneute Verbannung er sich mit allen Kräften wehrte, deshalb wollte sie von Anfang an deutlich machen, dass es ihr fernlag, irgendwelche Schuldzuweisungen vorzunehmen. Vielleicht hatte Henry die Figur ja selbst gefunden und Adam gegeben, um das Spiel wieder zu vervollständigen. In diesem Fall wäre es allerdings seltsam, dass er es ihr gegenüber nicht erwähnt hatte.
Im Salon war es still, Henry und Lady Weston waren nicht mehr da. Ob er vielleicht in seinem Arbeitszimmer war? Sie ging hinauf, doch auch dieser Raum war leer.
Er könnte bei Adam sein, überlegte Emma und stieg weiter die Treppe hinauf. Als sie oben war, dachte sie jedoch, sie sollte sich lieber keine großen Hoffnungen machen; er konnte genauso gut mit seinem Vater oder Mr Davies geschäftlich unterwegs sein.
Vermutlich würde sie Adam allein antreffen, über die Zinnsoldaten gebeugt, mit der gleichen absoluten Konzentration, die er den Dominosteinen und dem Schachspiel gewidmet hatte. Doch als sie vor Adams Tür stand, hörte sie drinnen Stimmen. Zwei Stimmen.
Behutsam drückte sie die Tür auf und spähte hinein. Da saßen Adam und Henry, nicht am Tisch, sondern auf dem Fußboden. Sie hatten die Jacken ausgezogen und knieten in Hemdsärmeln
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