Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)
Sie versuchte, nicht allzu ungläubig zu klingen. »Du hörst, wie Musik gespielt wird, merkst es dir und kannst das Stück dann nach Gehör nachspielen?«
Er konzentrierte sich auf die Schachfiguren, während er das Spiel aufstellte. »Ich spiele mit den Händen, Emma, nicht mit den Ohren.«
»Natürlich. Ich meinte nur … wie?«
Wieder das gelassene Achselzucken. »Ich weiß nicht.«
»Und wo hast du die Musik gehört, die du letzte Nacht gespielt hast?«
Adam dachte einen Augenblick nach. »In der Festhalle im Dorf. Mein Pa, Mr Hobbes, nimmt mich manchmal mit, Musik hören.«
Sie schüttelte verwundert den Kopf. »Da hast du aber ein unglaublich gutes Gedächtnis. Das ist eine ganz besondere Gabe.«
Adam schien nicht beeindruckt, sondern stellte die Figuren fertig auf.
»Spielst du manchmal auch die Musik, die du Julian spielen hörst?«
Er blickte zur Decke hoch. »Ist das der, der so laut spielt?«
»Ja«, gab sie zu.
»Das tut meinen Ohren weh.«
Emma lächelte. »Meinen auch.«
Sie blickte auf das Schachbrett. Zum ersten Mal bemerkte sie, dass Adam die Steine in der korrekten Position für ein Spiel aufgestellt hatte. »Wer hat dir beigebracht, die Figuren so hinzustellen?«
»Henry.«
Und dann sah sie es. Einen Moment lang glaubte sie, das Licht oder ihre Fantasie hätte ihr einen Streich gespielt. Doch dann schiensich ihre Hand wie von selbst auszustrecken und berührte sie. Sie verschwand nicht. Sie nahm sie auf, erstaunt und verwirrt zugleich. Die weiße Königin mit den orientalischen Gesichtszügen – die, die auf der blutigen Zeichnung abgebildet war. Die ursprüngliche Königin aus ihrem eigenen Schachspiel, die Henry ihr vor Jahren fortgenommen hatte und die, seiner Aussage nach, vor Kurzem verschwunden war.
»Adam, woher hast du die?«, fragte sie.
»Sie passt.«
»Ich weiß. Aber wo hast du sie gefunden?«
Er drehte sich um und deutete auf einen Koffer auf dem Beistelltisch. »In meinem Koffer. Gestern.«
Emmas Gedanken überschlugen sich. Wie war sie in Adams Zimmer gelangt? Als ihr Blick auf die grausamen Schlachtszenen fiel, die an den Wänden hingen, schluckte sie die Angst, die ihr plötzlich in der Kehle saß, hinunter.
Bei dem Gedanken überlief sie ein Schaudern.
Emma fragte sich, ob Henry wusste, dass Adam die Königin hatte. Und wenn er es wusste, warum hatte er es ihr dann nicht gesagt?
An diesem Nachmittag kam Lizzie in Emmas Zimmer und bat sie, mit ihr im Garten spazieren zu gehen. Das Mädchen war bereits für den Rundgang gekleidet; sie hatte ihren großen Strohhut mit Spitzenbändern unter dem Kinn festgebunden und streckte die Hände aus: »Schau, ich trage sogar Handschuhe.«
Emma war einverstanden. Sie setzte sich ebenfalls einen Hut auf und zog Handschuhe an.
Als sie auf dem Weg zur Seitentür am Salon vorbeigingen, hörten sie Henry und Lady Weston, die sich zu streiten schienen – Lady Weston empfahl eine Bekannte in Falmouth als Pflegerin für Adam, doch Henry wandte ein, die Entfernung von über siebzig Kilometern sei zu groß, um regelmäßige Besuche machen zu können.
Lizzie packte Emma am Arm und zog sie rasch zur Tür, außer Hörweite der angespannten Konversation.
»Er ärgert sie wirklich, weißt du«, sagte Lizzie und schüttelte den Kopf.
Emma entzog ihr ihren Arm, um die Tür hinter ihnen zu schließen, und folgte Lizzie in den Garten hinaus. »Wer … Adam?«
Lizzie drehte sich um und wartete auf sie; dabei blies sie sich eine Locke aus dem Mundwinkel, die der Wind dorthin geweht hatte. »Ja. Der auch. Aber ich habe Henry gemeint. Seit Jahren weigert er sich, sie Mutter zu nennen, bringt gegen ihren Willen Adam hierher und jetzt lehnt er es auch noch ab, einen neuen Platz für ihn zu finden.«
Lizzie nahm wieder Emmas Arm. Unter ihren Schuhen knirschte der Kies. Die Sonne schien auf orangerote Mohnblumen, stahlblaue Kugeldisteln und violette Clematis und ließ die kräftigen Farben noch stärker leuchten.
Während die Mädchen durch den Garten schlenderten und sich an dem Sonnenschein und den süßen Düften freuten, kommentierte Emma den ersten Punkt auf Lizzies Liste. »Ich denke, für Henry ist es besonders schwer, eine andere Frau ›Mutter‹ zu nennen, weil er sich noch an seine richtige Mutter erinnert, die Frau, die ihn geboren hat. Es ist doch ganz natürlich, dass er sie vermisst und sich an sie erinnern möchte. Ich kann das verstehen, ich habe auch meine Mutter verloren. Und du kannst es sicher auch.«
»Warum sollte
Weitere Kostenlose Bücher