Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)
wie sie gedacht hatte. Sie fragte sich, wie er die Noten las, denn er hatte keine Kerze und das schwache Mondlicht reichte mit Sicherheit nicht aus.
Als ihre Augen sich weiter angepasst hatten, konnte sie auch sein Gesicht besser sehen. Es wirkte, als hielte er die Augen beim Spielen geschlossen. War das nur ein Streich, den der Schatten ihr spielte?Von dort, wo sie stand, konnte sie kein Notenblatt sehen, aber vielleicht lag es an dem Winkel und am schlechten Licht.
Dann hörte sie auf, sich Fragen zu stellen, und genoss einfach die sanfte, süße Melodie. Sie kannte das Stück oder den Komponisten nicht, aber sie wusste, dass es ihr gefiel. Es war so viel angenehmer als die hämmernden, dramatischen Stücke, die Julian bevorzugte.
Emma lauschte noch ein paar Minuten. Dann drehte sie sich um und sah erschrocken, dass noch eine andere Gestalt an der dunklen Wand gegenüber der Tür lehnte. Ihr Herz raste. Doch dann erkannte sie Henry Weston und seufzte erleichtert auf.
Er blickte zu ihr hinüber und öffnete ihr leise die Tür. Sie glitt aus dem Zimmer, er folgte ihr und schloss behutsam die Tür hinter ihnen.
Während sie zusammen durch die Halle gingen, sagte Henry: »Sie hatten wieder einmal recht, Miss Smallwood.«
Diese Worte gefielen ihr besser, als sie ihr hätten gefallen dürfen, wie sie sehr gut wusste. Sie liebte es, für ihre Intelligenz gelobt zu werden, genauso sehr, wie andere Frauen es liebten, wenn man ihnen Komplimente über ihre Schönheit machte.
Sie flüsterte: »Ich frage mich, ob Lady Weston so begierig war, Julian die Lorbeeren für die Musik zuzuschanzen, weil sie Adams Existenz verheimlichen wollte, oder ob sie wirklich glaubt, dass nur ihr eigenes Kind ein solches Talent haben kann.«
»Wahrscheinlich beides.«
Unten an der Treppe drehte sie sich zu Henry um und nahm seinen Arm. »Wir wollen es keinem sagen. Noch nicht.«
Henry sah sie erwartungsvoll an und plötzlich wurde Emma bewusst, dass sie noch immer seinen Arm hielt. Und dass er nur ein Hemd trug. Als sie die festen, harten Muskeln unter ihren Fingern spürte, schluckte sie und zog ihre Hand fort.
Verlegen blickte sie zu ihm hoch, im sanften Mondlicht, das durch die Fenster in der Halle schien, deren Läden nicht geschlossen waren. War es ein Streich, den der Schatten ihr spielte, oder verdunkelten sich seine Augen wirklich? Beugte er sich näher zu ihr?
Ihr Herz klopfte heftig. Du meine Güte . Sie stand hier spät nachts allein mit Henry Weston, er im Hemd und sie in Nachthemd und Hausmantel. Da sie nur Strümpfe trug, kam er ihr noch größer vor als sonst. Er würde sich herunterbeugen müssen, um …
»Haben Sie etwas vor?«, flüsterte er. Sein Gesicht war plötzlich ganz nahe an ihrem. Sie roch Lorbeer-Haarwasser. Spürte seinen warmen Atem.
»Ja«, murmelte sie. Ihr Blick wanderte zu seinem Mund.
»Einen … Plan?«
Plan ? Sie blinzelte. Ach ja – Adam. Sie holte zitternd Luft und trat einen Schritt zurück. »Noch nicht, aber ich arbeite daran.«
Nach dem Frühstück am nächsten Morgen stieg Emma hinauf ins Schulzimmer, um ein paar alte Notenblätter zu holen, die sie im Regal entdeckt hatte. Dann ging sie zu Adam.
Er kannte sie jetzt und wirkte einigermaßen entspannt in ihrer Gesellschaft oder doch wenigstens nicht angespannt, als er sie in seiner Tür stehen sah. Er saß mit einem Block und einem Stift in der Hand im Armsessel und zeichnete wieder einmal eine Schlachtszene, blickte jedoch auf, als sie durchs Zimmer ging.
Sie sagte sanft: »Ich habe gehört, wie du gestern Nacht Klavier gespielt hast.«
Er blinzelte erschrocken. »Ich darf mein Zimmer nicht verlassen.«
»Das ist schon in Ordnung. Es war schön, dir zuzuhören. Du spielst sehr gut.«
Adam legte seine Zeichnung beiseite. Dann stand er auf, ging zum Tisch und zog das Schachbrett heran.
»Adam«, fragte Emma und legte ein Notenblatt vor ihn hin. »Kannst du Noten lesen?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich lese Bücher.«
»Das weiß ich. Aber keine Noten?« Sie fuhr mit dem Finger über die Partitur. »Sagt dir das irgendetwas?«
Sein Blick wanderte zwischen der Partitur und den Schachfiguren hin und her. »Meine Ma guckt auf solche Seiten, wenn sie spielt.«
Emma war neugierig geworden. »Darf ich fragen … wie spielst du Klavier, wenn du keine Noten lesen kannst?«
Er zuckte die Achseln und schob ihr die Blätter wieder zu, vom Schachbrett herunter. »Ich spiele, was ich höre.«
»Was du hörst?«
Er nickte.
»Also …«
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