Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)
wollte, packte Lizziesie am Handgelenk. Ihr Gesicht war eine Maske aus harten Linien und Entschlossenheit.
»Nicht«, befahl sie.
»Aber … ich …«, stammelte Emma. »Du hast doch gehört, was Henry gesagt hat. Er will, dass wir die Glocke läuten.«
Lizzies Augen weiteten sich, scheinbar ungläubig. »Ich habe nicht gehört, dass er das gesagt hat. Nicht bei dem Wind.«
Emma versuchte sich loszureißen, doch Lizzie hatte einen überraschend festen Griff.
»Was machst du da? Lass mich los!«
»Nein.«
Lizzies kalte Stimme, ihre Gleichgültigkeit gegenüber Menschenleben, trafen Emma wie ein Schlag. Wie hatte sie je glauben können, Lizzie Henshaw zu kennen? Sie wehrte sich gegen den Griff des Mädchens, doch Lizzie war zwar jünger als Emma, aber kräftig. Emmas tägliche Übungen im Lesen und Lehren hatten wenig getan, ihre Muskeln zu stärken.
Lizzie wandte sich um und rief Rowan und Julian, die mehrere Meter entfernt waren, zu: »Sie will die Glocke läuten. Kommt und helft mir.«
Emma warf einen Blick über die Schulter. Steckten sie denn alle unter einer Decke in dieser … was immer es war?
Julian ließ die Staffelei stehen und rannte auf sie zu, Rowan folgte ihm auf dem Fuß. Emma wusste, wenn sie sie erst einmal festhielten, kam sie mit Sicherheit nicht mehr los. Es galt jetzt oder nie.
Sie kämpfte noch kurz, dann tat sie, als gäbe sie auf, und ließ den Kopf sinken, wie besiegt. Wie sie gehofft hatte, lockerte sich Lizzies Griff. In diesem Moment riss Emma ihren Arm hoch und schlug ihn sofort wieder herunter, als hiebe sie einem Huhn mit einer Axt den Kopf ab.
Lizzie schrie auf und wollte sie wieder packen, doch Emma war frei und schlug sie hart ins Gesicht. Das Mädchen prallte zurück, stolperte und wäre beinahe hingefallen, blieb aber auf den Füßen und griff sich mit beiden Händen an die schmerzende Wange.
Emma drehte sich um, sprang mit einem großen Satz auf die Leiter und begann hinaufzuklettern, so schnell sie konnte.
»Du dumme Kuh!«, schrie Lizzie, Schreck und Bosheit in der Stimme.
Emma schaute nicht nach unten, spürte aber, wie Lizzies Hand an ihrem Umhang zerrte. Sie riss sich los, überwand die letzten Stufen und sprang auf die Plattform. Dann griff sie nach dem Seil und zog kräftig daran, immer wieder, bis ihre Ohren dröhnten und ihr Kopf zu schmerzen begann.
»Ich glaube, Sie können aufhören, Miss Smallwood«, rief Julian freundlich herauf. »Inzwischen hat das ganze Dorf Sie gehört.«
»Die ganze Grafschaft, würde ich sagen«, fügte Rowan trocken hinzu.
War sie jetzt hier oben gefangen? Würden sie den Turm umstoßen, während sie darauf stand?
»Sie müssen Lizzie verzeihen«, sagte Julian. »Sie war nur besorgt wegen uns. Sie weiß, dass wer immer den Turm umgehauen hat, sich an uns rächen will, wenn ihm unseretwegen reiche Beute entgeht.« Er lächelte die wütende junge Frau, die sich noch immer die Wange hielt, freundlich an. »Stimmt das nicht, Lizzie?«
Lizzie starrte ihn an.
Doch Julian lächelte nur und sagte sanft: »Du hast nur versucht, uns zu beschützen, uns alle. Stimmt das nicht, liebe Lizzie?«, fragte er eindringlich.
Sie presste zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor: »Ja, lieber Julian.«
Dieser lächelte zu Emma hinauf. »Sehen Sie? Jetzt kommen Sie herunter, damit Sie beide sich wieder vertragen können.«
Lizzie zischte: »Ich will mich aber nicht ›vertragen‹. Sie hat mich ins Gesicht geschlagen. Hast du das nicht gesehen?«
»Doch.« Julian blickte wieder mit scheinbarer Bewunderung zu Emma hinauf. »Und ich muss sagen, ich bin beeindruckt. Ich hätte nicht gedacht, dass so etwas in der Tochter des Hauslehrers steckt. Sie ist doch nicht ganz die zimperliche Jungfer, für die ich sie hielt.«
Emma war nicht sicher, ob das ein Kompliment oder eine Beleidigung war, doch das war ihr im Moment auch nicht wichtig.
»Warte, bis Lady Weston das erfährt!«, schrie Lizzie und hob ihr Kinn.
Lady Weston war im Moment Emmas geringste Sorge.
Rowan sah sie ernst an. »Kommen Sie herunter, Miss Smallwood«, drängte er. »Sie sehen gar nicht gut aus.«
»Ich warte hier, danke«, sagte sie und zwang sich zu einem kühlen, herrischen Ton. Der Rat ihrer Tante fiel ihr ein: Lass sie nie sehen, dass du Angst hast – seien es wilde Hunde oder schlecht erzogene Jungen.
Dann sah sie, dass Phillip vom Haus her zu ihnen gelaufen kam; hinter ihm folgten Sir Giles und ihr Vater.
»Danke, Gott«, flüsterte sie und merkte plötzlich,
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