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Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)

Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)

Titel: Die Tochter des Hauslehrers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Klassen
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musste die Augen schließen und spürte, wie er die Orientierung verlor.
    Gott, hilf mir! , flehte er tonlos. Die Welle war vorüber, er tauchte wieder auf. Er schnappte nach Luft. Dann blickte er über das Wasser und jubelte innerlich, als er sah, dass die Männer sich noch immer aneinanderklammerten. Der Vorderste hatte sich das Seil um den Arm gebunden.
    »Komm, mein Junge. Zurück zum Ufer«, drängte Henry und trieb sein Pferd mit Zügeln, Knien und Stimme an.
    Das Pferd, schnaubend und im Wasser strampelnd, drehte sich langsam und zog sie alle, gegen die Strömung und das Gewicht der aneinandergebundenen Männer ankämpfend, an Land.
    Die Seeleute knieten in der Brandung, husteten und schnapptennach Luft und dankten Gott in einer Sprache, die Henry nicht kannte. Spanisch, dachte er, oder Portugiesisch.
    Einer der Männer jedoch blickte sich mit wilder Angst nach Henry um und griff nach seinem Mantel. »Sir, mein Bruda!«, rief er mit starkem Akzent. »Er ist weg!«
    Henry ließ die Augen über die kleine Gruppe Männer schweifen – es waren nur fünf. Enttäuschung überfiel ihn. Nein …
    Der Mann suchte mit den Augen die Wasseroberfläche ab und rief: »Dort!«
    Henry schaute in die angezeigte Richtung und sah einen Kopf, eine verzweifelt winkende Hand – dann verschwand der Mann unter den Wellen.
    »Bitte, Sir, ich flehe Sie an«, sagte der Mann. »Er ist mein Bruda!«
    Einen Augenblick trafen sich ihre Blicke. Bruder … Henrys Herz zog sich zusammen. Konnte er es wagen, noch einmal hinauszugehen? Es war ihm zuwider, seinem Pferd die ungeheure Anstrengung erneut abzuverlangen, doch so sehr er das Tier liebte, ein Menschenleben war wichtiger.
    Wichtiger als mein eigenes? , fragte er sich, doch dann verdrängte er den Gedanken. Er hatte sich selbst etwas versprochen, hatte ein Gelübde abgelegt. Er würde nicht mehr dastehen und nichts tun. Nie mehr.
    »Komm, mein Junge. Gehen wir.« Er trieb Major wieder in die Wellen. Das Pferd zögerte, nur einen winzigen Moment, in dem Henry spürte, wie ein Zittern durch die kräftigen Muskeln lief, und er wusste, dass es wie er Furcht empfand.
    Henry konzentrierte seinen Blick auf den Punkt, wo der Mann untergegangen war. Aus dem Augenwinkel sah er plötzlich eine undurchdringliche graue Wasserwand auf sich zukommen. Er holte tief Luft, hielt den Atem an und presste den Kopf auf die Brust, als die Welle über ihn hinwegging. Doch diesmal öffnete er unter Wasser die Augen und sah plötzlich den Matrosen, der die Hand nach ihm ausstreckte. Irgendwie gelang es dem Mann, einen der Steigbügel zu erwischen. Henry selbst packte ihn am Kragen.
    Die Welle ging vorbei. Henrys Kopf kam wieder an die Wasseroberfläche und er konnte atmen. Er zog den Mann mit aller Kraft nach oben, doch dieser war mit seiner vollgesogenen Kleidung sehr schwer; wahrscheinlich hatte er auch Wasser in den Lungen. Henry wusste nicht, ob der Ärmste auch nur ein einziges Mal Luft holen konnte, bevor die nächste Welle über sie hinwegrollte. Sie war so stark, dass sie das Pferd im Wasser purzelbaumartig einmal um sich selbst drehte, sodass Henry und der Seemann beinahe in die Tiefe gedrückt wurden.
    Herr, hilf uns , betete Henry verzweifelt.
    Sein Pferd richtete sich rasch wieder auf. Henry schnappte erneut nach Luft und riss den Kopf des Mannes über Wasser. Major wandte sich in Richtung Ufer, schwamm los und zog Henry und den halb ertrunkenen Seemann an den Strand.
    Inzwischen waren noch andere am Schauplatz angelangt. Mr Bray und der Bruder des Matrosen rollten den armen Mann so lange auf dem Boden hin und her, bis eine Fontäne Salzwasser aus seinem Mund sprudelte.
    Der Mann hustete und spuckte. Sein Bruder sank auf die Knie, dankte Gott, dann beugte er sich vor und küsste seinen Bruder auf die Wangen.
    Henry stieg erschöpft ab. Seine Beine knickten beinahe ein. Er lehnte sich gegen sein Pferd und legte ihm den Arm um den Hals, aus Dankbarkeit, aber auch, weil er nicht länger allein stehen konnte.
    Plötzlich tauchte Miss Smallwood vor ihm auf wie eine zauberhafte Luftspiegelung. Ihre grünen Augen, die in Tränen schwammen, wirkten riesig in ihrem blassen Gesicht, ihre roten Lippen hoben sich in lebendigem Kontrast davon ab. Ihr Haar hatte sich im Wind gelöst und umrahmte ihr Gesicht, helle Strähnen legten sich um Wangen und Mund.
    »Sie haben es geschafft«, sagte sie atemlos. »Mir blieb beinahe das Herz stehen, als ich Sie untergehen sah. Jetzt weiß ich, wie es Ihnen erging, als Sie

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