Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)
dass sie ihm schon viel zu lange nicht mehr richtig gedankt hatte.
In dem Wissen – oder zumindest in der Hoffnung –, dass die drei nicht versuchen würden, ihr in Gegenwart von Zeugen etwas anzutun, kletterte Emma langsam, mit zitternden Beinen, die Leiter hinunter. Sie machte sich zu große Sorgen um das Schiff und um Henry, um über die Unschicklichkeit nachzudenken, dass eine junge Frau an einem windigen Tag über den Köpfen zweier junger Männer von einer Leiter kletterte. Sie schenkten ihr ohnehin keine Beachtung, sondern blickten zu dem schlingernden Zweimaster hinaus und schienen in eine angespannte Unterhaltung vertieft.
So sehr sie sich nach der tröstlichen Gegenwart ihres Freundes Phillip, ihres Vaters und des freundlichen Sir Giles gesehnt hatte, tat sie doch keinen Schritt, ihnen entgegenzugehen.
Phillip traf vor den beiden älteren Männern ein. Lizzie lief zu ihm, warf ihm die Arme um den Hals und barg ihr Gesicht an seiner Brust – der Inbegriff verletzter Weiblichkeit.
Der gekränkte Teil von Emma wünschte sich, zu bleiben und sich zu verteidigen, doch sie wartete nicht, sondern drehte sich um, deutete aufs Meer hinaus und rief über die Schulter: »Ein Schiff ist in Seenot. Henry ist zum Strand geritten, um zu helfen!«
Sie erwartete, dass Sir Giles oder doch zumindest Phillip den Schiffbrüchigen ebenfalls zu Hilfe eilten.
Doch Phillip blieb stehen und neigte den Kopf, um zu hören, was Lizzie zu ihm sagte. Ganz bestimmt würde sie Emma verunglimpfen. Nun, das war im Moment nicht zu ändern. Sie hörte noch, wie ihr Vater sie rief, doch da hatte sie schon ihre Röcke zusammengerafft und rannte den Weg hinunter.
Unten, vor der scharfen Biegung, parierte Henry sein Pferd und da hörte er endlich auch die Glocke, laut und stark. Gott sei Dank! Er hatte sich schon gefragt, was Emma gehindert hatte oder ob die Glocke vielleicht beschädigt worden war.
Als er auf den Strand zugaloppierte, sah er, wie die Brigg sich genau gegenüber dem Hafen, vor dem Damm, auf die Seite legte, die Segel völlig zerfetzt. Er ritt weiter, so schnell er konnte, und erreichte den Hafen in dem Moment, als das Schiff in der Hafenmündung auf Felsen lief und sich mit der Breitseite zum Meer drehte. Sechs panische Matrosen warfen ein Seil aus und ließen sich daran ins Wasser, in dem Versuch, nicht mit dem Schiff zusammen unterzugehen. Jetzt zappelten sie in den Wellen und kämpften darum, den Kopf über Wasser zu halten.
Henry blickte auf das aufgewühlte Meer hinaus und sein Mut sank. Einen Moment lang war er vor Angst wie erstarrt. Die Männer würden niemals gegen die Strömung anschwimmen können und er konnte nicht zu ihnen hinausschwimmen. Nicht einmal dem stärksten, erfahrensten Schwimmer würde das gelingen und er selbst war seit seiner Kindheit kaum noch geschwommen.
Er sah hinunter auf die Fischerboote, die am Ufer lagen. Er konnte auch nicht auf der ungeschützten Nordseite des Hafens durch die wilde Brandung rudern; dabei würde er unweigerlich kentern. Da fiel sein Blick auf ein Seil, das zusammengerollt im Bug eines Bootes lag, und er hatte eine Idee. Er stieg ab, griff nach dem Seil und legtees sich um die Taille. Dann stieg er wieder auf sein Pferd; seine Füße fanden die Steigbügel ohne Mühe dank alter Gewohnheit.
Gütiger Gott, hilf mir. Hilf diesen armen Seelen . Er nahm die Zügel auf und trieb sein Pferd vorwärts. »Komm, mein Junge. Los!« Das folgsame Pferd galoppierte über den Sand ins Wasser. Das eisige Nass spritzte an Henrys Beinen hinauf, erreichte seine Taille, dann begann sein Pferd zu schwimmen. »Braver Major«, murmelte er.
Vor sich sah er die sechs Männer auf den Wellen treiben und nach Luft schnappen.
»Bleibt alle zusammen!«, rief Henry. Nicht sicher, ob sie ihn in dem Sturm hören konnten, zeigte er ihnen, was er meinte, indem er die Arme hob und die Hände zusammenklatschte.
Die Männer kämpften sich näher zueinander, versuchten, sich aneinander festzuhalten, und warteten.
Henry warf dem Mann, der ihm am nächsten war, das Seilende zu. Er verfehlte es und ging unter. Henry holte es ein, so schnell er konnte, und warf es wieder aus. Diesmal konnte der Mann es fangen. Plötzlich ging eine Welle über Henry hinweg, drückte ihn unter Wasser und zog ihn nach hinten. Er spürte, wie er aus dem Sattel gerissen wurde, doch er klammerte sich mit aller Kraft mit den Beinen und einer Hand an den Lederriemen fest. Er bekam keine Luft mehr, seine Lungen brannten, er
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