Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)
Zeitpunkt, den Kopf zu verlieren. Ein paar Haarsträhnen hatten sich gelöst und fielen ihr ins Gesicht. Sie blickte auf. Ja, der Himmel wurde von Sekunde zu Sekunde grauer und der Wind nahm zu. Bestimmt würde ihr Vater es auch merken und sich beeilen, nach Hause zu kommen.
Sie kam zum Aussichtspunkt und schaute aufs Meer hinaus, suchte den Horizont ab. Kein mit den Wellen kämpfendes Schiff, überhaupt kein Schiff. Sie blickte hinunter auf die felsige Landzunge und die Kapelle an ihrer Spitze und sah, wie die Wellen seitlich an der schmalen Halbinsel hochleckten, sie aber noch nicht überspülten. Trotzdem war das Meer heute eindeutig sehr unruhig und bei dem heftigen Wind würden auch die Wellen noch stärker werden. Doch sie sah keinen Menschen. War ihr Vater vielleicht noch in der Kapelle? Von dieser Höhe aus war es schwer zu erkennen, ob die Tür wirklich geschlossen war oder ob es nur so aussah und die Schatten eine Tür vortäuschten, wo in Wirklichkeit nur die Öffnung der zurückgestoßenen Tür war. Vielleicht befand sich ihr Vater ja schon auf dem Rückweg nach Hause und sie konnte ihn auf dem steilen Klippenpfad einfach nicht sehen.
Sie drehte sich um und lief den Weg hinunter. Dabei dachte sie daran, wie sie das Gleiche getan hatte, nachdem sie die Glocke geläutet hatte, im Drang zu erfahren, ob es Henry gut ging, und ihm zu helfen, wenn sie konnte. Heute spürte sie einen ähnlichen Drang, eine ähnliche Furcht, aber warum nur? Kein Schiff lag zerschmettert auf den Felsen. Keine Menschenleben waren in Gefahr.
Zumindest hoffte sie das.
Emma riss sich zusammen. Nach der Gezeitentabelle waren es noch etwa zwei Stunden, bevor die Landzunge unten überspült werden würde. Und Henry hatte ihr versichert, dass die Schätzungen sehr genau waren.
Trotzdem klopfte ihr Herz heftig und ihr Magen verkrampfte sich, als sie um die Wegbiegung lief und hoffte, jede Sekunde ihren Vaterzu sehen, der ihr entgegenkam. War er vielleicht stehen geblieben, um kurz zu verschnaufen? Oder vielleicht ins Dorf gegangen?
Wo bist du, Papa?
Am Kreuzweg zügelte Henry sein Pferd. Er hatte seine übliche Abkürzung genommen. Links ging es ins Dorf, geradeaus nach Stratton und rechts, in Richtung Süden, zu Mr Trengrouse, der einen Auftrag für eines seiner Rettungsseile für den Hafen von Ebford erhalten sollte.
Henry blickte zum Wegweiser. Er wusste ganz genau, was auf jedem der Holzschilder stand, doch sein Auge blieb an dem obersten Schild hängen, das erbebte. Der Wind nahm zu. Normalerweise ließ er sich nicht von ein wenig Wind und Regen abschrecken. Er sah zum Himmel auf. Kam vielleicht ein Unwetter?
Plötzlich spürte er in sich ein Unbehagen, einen nagenden Gedanken, als hätte er etwas vergessen. Etwas Wichtiges.
Er lauschte.
Dreh um. Geh nach Hause.
War das seine eigene Stimme – sein Gewissen – oder die Stimme Gottes, dieses leise Säuseln? Er war nicht sicher, aber er hatte aus häufigen Irrtümern gelernt, diese kleinen Kniffe, ob sie nun von seinem Gewissen oder von Gott herrührten, nicht zu ignorieren. Mr Trengrouse erwartete ihn, aber Mr Trengrouse konnte warten.
Henry wendete sein Pferd und ritt zurück nach Ebbington Manor. Dabei spürte er, wie seine Unruhe unaufhörlich zunahm. Machte er sich vielleicht immer noch Sorgen um Miss Smallwood, nach dem Zwischenfall mit dem vorgetäuschten Blut und der seltsamen Rangelei am Glockenturm? War es das?
Vor sich entdeckte er Mr Smallwood, den Stock in der Hand, auf einem seiner Spaziergänge in Richtung Süden. Als Henry näher kam, rief er: »Hallo, Mr Smallwood. Ist alles in Ordnung zu Hause?«
»Ja, mein Junge. Soweit ich weiß, schon.«
»Gut. Gehen Sie nicht zu weit. Sieht aus, als ob wir ein Unwetter kriegen.«
»Nur bis zum Friedhof von Upton und wieder zurück.« Er hob eine Karte, die er in der Hand hielt. »Ein wenig Feuchtigkeit macht mir nichts aus.«
»Nun gut. Dann viel Spaß.« Trotz der unbekümmerten Worte von Mr Smallwood war Henry nach wie vor beunruhigt, während er weiterritt. Im Hinterkopf überlegte er, warum Mr Smallwood wohl zum Friedhof von Upton ging, zumal um diese Tageszeit. Offenbar übernahm seine Tochter den Nachmittagsunterricht für ihn.
Er kam beim Haus an und ritt gleich zum Stall. Der Pferdeknecht nahm ihm sein Pferd ab; er war offenbar überrascht und nicht gerade erfreut, ihn schon so früh zurück zu sehen, weil er dadurch mehr Arbeit hatte.
»Lass ihn gesattelt«, sagte Henry. »Ich habe etwas …
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