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Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)

Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)

Titel: Die Tochter des Hauslehrers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Klassen
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einatmen und seinem Schöpfer für sie danken. Für ihre elegante Gestalt, ihre weichen Lippen, ihre wache Intelligenz. Sogar für ihre unsagbare Ordnungsliebe. Wenn sie nur mehr Zeit hätten.
    Er hielt kurz inne, um Luft zu holen, doch sogleich hing sein Mund wieder an ihrer Haut, küsste ihre Schläfe, ihre Stirn, eine Wange, dann die andere.
    »Mr Weston«, hauchte sie zitterig, »ich … ich glaube …«
    »Ich glaube, von jetzt an könntest du Henry zu mir sagen, oder?«, neckte er sie.
    Dann blickte er auf die Wasseroberfläche hinunter. Bildete er es sich nur ein oder war sie tatsächlich auf gleicher Höhe geblieben, seit er auf das Taufbecken geklettert war? Auf jeden Fall schien sie nicht mehr so schnell zu steigen. Henry würde jede Sekunde, die ihm mit dieser Frau im Arm vergönnt war, ausnutzen.
    Er liebkoste ihre Wange. »Findest du es nicht lustig, dass wir auf ein Taufbecken geklettert sind, um nicht im Wasser zu stehen? Oder ist das nur mein seltsamer Sinn für Humor?«
    Emma blickte verwundert in Henry Westons Gesicht. Ihr Herz klopfte noch heftig infolge des Kusses und der leidenschaftlichen Zuneigung, die in ihr aufgewallt war – eine Zuneigung, die er offenbar erwiderte. Sie hatte Phillip gegenüber nie so empfunden wie gegenüber dem Mann, der sie jetzt im Arm hielt.
    Plötzlich erzitterte der Turm. Emma griff erschrocken nach Henrys Schultern und er verstärkte seinen Griff um ihre Taille. Dann fing er an, mit seiner tiefen, männlichen Stimme die Zeilen eines alten Liedes zu sprechen und streichelte dabei mit seiner freien Hand ihre Wange.
    »Dann mögen wilde Stürme wehen,
Unwetter über uns ergehen,
mich schreckt nicht Schiffbruch noch Gefahr,
mein Schatz ist mein unwandelbar.
    Wenn du, mein Jesus, bleibst bei mir,
leb' ich und sterb' mit Freuden dir,
mag auch mein irdisch' Glück mich flieh'n,
find ich in dir zehntausendfach Gewinn.«
    Die Worte hallten in den Steinmauern wider, schlugen von den geschnitzten griechischen Göttern der vier Winde zurück und fandenihren Weg in Emma Smallwoods Seele. Sie flüsterte: »Das ist wunderschön.«
    Er nickte. »Ja. Aber nicht mein Verdienst. Philip Doddridge hat diese Worte vor sechzig Jahren geschrieben.«
    »Und sie haben noch heute Gültigkeit.« Sie schluckte. »Vor allem heute.«
    Dann verstummte sie, weil ihr plötzlich bewusst wurde, dass sie tatsächlich gehört hatte, wie die Worte von den Wänden zurückgeworfen wurden. Hatten das Brüllen des Sturms und das Tosen der Wellen sich etwa beruhigt?
    Sie blickte zum Westfenster hinüber. »Es tut mir leid, dass du nie das Leben führen konntest, das du dir gewünscht hast. Dass du nie die Welt gesehen, keine Abenteuer erlebt hast.«
    Er lachte leise an ihrem Hals. »Habe ich das nicht? Ich würde sagen, wir beide erleben gerade ein richtiges Abenteuer. Man hat mir immer gesagt, ich solle vorsichtig sein mit dem, was ich mir wünsche, aber ich wollte ja nicht hören.« Er seufzte theatralisch.
    Sie lächelte. Dabei lösten sich zwei runde Tränen aus ihren Augen und liefen ihr über die Wangen. Verräterische Tränen! Sie kämpfte so sehr darum, mutig zu sein. Ihre Gefühle unter Kontrolle zu haben.
    »Und was hast du nie tun können, Emma Smallwood?«, fragte er leichthin und tupfte die Tränen von ihren Wangen.
    »Nichts, was im Rückblick wirklich zählt.« Sie zuckte die Achseln. »Auch wenn ich gern gereist wäre. Und vielleicht Tante Jane gern Mut gemacht hätte, ihr Leben zu leben. Genug zu leben für uns beide.«
    »Keine gewöhnlichen Träume? Von Ehe vielleicht? Einer Familie?«
    Sie ließ den Kopf sinken. »Vielleicht.« Wieder stiegen ihr Tränen in die Augen.
    Er nahm ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie erneut.
    Plötzlich hörte Emma von draußen eine Stimme. Oder war das nur ihre Fantasie, die ihr einen Streich spielte und den Schrei einer Seemöwe in eine menschliche Stimme verwandelte?
    »Hast du das gehört?«, flüsterte sie und entzog ihm ihren Mund.
    Er neigte den Kopf, aufmerksam, die Brauen vor Konzentration zusammengezogen.
    Wortfragmente drangen durch die Tür der Kapelle. Und dann erklang das Läuten einer Glocke.
    Die Warnglocke.
    Henry und Emma blickten einander an. Dann packte Henry ihre Arme. »Du bleibst hier.«
    Er sprang hinunter ins schenkelhohe Wasser. Anscheinend war ein Teil davon abgeflossen, durch Öffnungen, die zu winzig waren, um Henry und Emma zu nützen. Die Kälte verschlug ihm den Atem.
    Er biss die Zähne zusammen und watete zur Tür;

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