Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)
ernstes Gespräch mit ihrem Vater vertieft. Henry würde später mit ihr sprechen müssen. Angenommen, sie redete überhaupt je wieder mit ihm – oder mit irgendeinem Weston –, nach allem, was diese ihr angetan hatten.
Emma war froh, ihren Vater am Leben und wohlauf zu sehen, hatte sie ihn doch vor wenigen Stunden noch in Gefahr geglaubt. Er drückte sie erleichtert an sich, und sie umarmte ihn fest.
»Gott sei Dank, Emma. Ist alles in Ordnung?«
»Ja, Papa.« Sie bemerkte sein tiefrotes Gesicht und sein angestrengtes Atmen und fragte besorgt: »Und bei dir?«
»Jetzt, da du in Sicherheit bist, ja.« Er rang noch immer nach Luft. »Ich war schon halb in Upton, ehe mir der Gedanke kam, dass man mir vielleicht einen Streich gespielt hat. Ich ging zurück, so rasch ich konnte, und als ich den gefälschten Brief im ansonsten leeren Schulzimmer fand, befürchtete ich das Schlimmste. Ich alarmierte Sir Giles und lief hinunter zum Strand, während er anspannen ließ.«
Er hielt sie ein Stückchen von sich und betrachtete sie forschend. »Was ist passiert?«
Emma blickte auf die herumlungernde Menschenmenge und den wartenden Stallknecht. »Ich erzähle es dir später, ja? Wenn wir allein sind.«
Er folgte ihrem Blick. Der Stallknecht senkte rasch den Kopf und tat so, als mache er sich am Zaumzeug zu schaffen. »Gut.«
Emma schaute zu den anderen hinüber. Henry wurde gerade von Sir Giles, der viel Aufhebens um ihn machte, zum Landauer geleitet.Er schaute zu ihr herüber; ihre Blicke trafen sich. Sie sah, wie seine Lippen sich bewegten, konnte ihn aber bei dem Geschrei, das seine Brüder machten, und dem wieder zunehmenden Sturm nicht verstehen. Sie zuckte die Achseln und schüttelte den Kopf, um ihm zu zeigen, dass sie ihn nicht hören konnte. Doch wer wusste, wie er ihre Geste deutete; er hob jedenfalls nur noch einmal die Hand, zum Gruß oder Lebewohl, den Kopf bedauernd gesenkt.
Henry stieg zu seiner Familie in den Landauer und ließ sie und ihren Vater allein in der kleinen Kutsche zurückfahren. Für Emma war das wie ein Schwall kaltes Wasser ins Gesicht, es schreckte sie aus einem Traum auf und holte sie mit einem Schlag zurück in die nackte, graue Realität.
Eine Realität, die in Emma einsickerte wie Wasser, das durch Hunderte von Rissen durch die Schutzmauern ihres Wesens drang. Lady Weston würde ihm nie erlauben, sie zu heiraten.
Emma blickte die wenigen Meter, die zwischen ihnen lagen, hinüber und wusste plötzlich mit ernüchternder Klarheit, was sie weit stärker trennte als die physische Entfernung: Henry Weston war der Sohn eines Baronets und sein Erbe. Er würde Sir Henry sein nach dem Tod seines Vaters und sie wäre dann immer noch die einfache Miss Smallwood, die Tochter des Hauslehrers. Sie gehörte weder durch Geburt der gehobenen Schicht an noch besaß sie gesellschaftliche Verbindungen oder auch nur Geld. Die Trennungslinie zwischen ihnen beiden war deutlicher als jede wirkliche Linie, die den Sand durchzog.
Sie trug noch immer Henrys feuchte Jacke; schwer wie ein Kettenhemd hing sie von ihren Schultern. Ihre Knie zitterten unter dem Gewicht. Emma dachte an das, was in der Kapelle zwischen ihnen vorgefallen war, wie er sie angesehen, gehalten, geküsst hatte. Was er gesagt hatte. Doch das war geschehen, als sie beide noch dachten, dass sie den nächsten Tag nicht erleben würden.
Eine böse Ahnung kroch ihr Rückgrat hinauf. Waren es einfach nur überbordende Gefühle gewesen, die außer Rand und Band geraten waren?
Sie überlegte, was sie jetzt empfand. Verlegenheit? Reue? Dachte er vielleicht, dass er sich ihr ungewollt verpflichtet hatte, wo er doch gehofft und geplant hatte, Miss Penberthy oder eine andere reiche junge Dame zu heiraten? Emma wollte auf gar keinen Fall, dass Henry das Gefühl hatte, in eine Falle geraten zu sein, und nur aus Pflichtgefühl bereit war, sich an sie zu binden. Sie wollte seine echte, rückhaltlose Liebe oder gar nichts. Als sie ihn jetzt sah, im Kreis seiner Familie, hielt sie Letzteres für sehr viel wahrscheinlicher.
Jenseits des Hafens schlugen die Wellen mit neuer Wucht gegen die Kapelle. Emma schauderte, der Wind schnitt durch ihre nasse Kleidung wie ein Messer. Ihr Vater bemerkte es; er zog seinen Mantel aus und legte ihn ihr um die Schultern.
Als er ihr in die wartende Kutsche half, vernahm sie plötzlich ein schreckliches, reißendes Geräusch, ein grauenhaftes Krachen, als sei ein gefrorener Teich von einer mächtigen Faust getroffen
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