Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)
worden, und schrak zusammen.
Sie drehte sich um und sah, wie die angeschlagene Kapelle sich neigte, umstürzte und mit einem mächtigen Krachen ins Meer fiel. Die hungrigen Wellen leckten daran, verzehrten sie; innerhalb von Sekunden war sie vollständig untergegangen, unter dem Wasser begraben. Für immer fort.
Am Hafen standen die Menschen und starrten fassungslos aufs Meer hinaus. Emma blickte zu Henry im Landauer hinüber und sah, wie er ebenfalls mit offenem Mund hinausschaute. Sie sah seinen Kummer.
Armer Henry , dachte Emma. Er hatte diesen Ort geliebt. Wie enttäuscht musste er jetzt sein.
Sie holte tief Luft. Wenigstens war er am Leben.
Und ich auch, rief sie sich ins Gedächtnis. Und das war genug. Es war Zeit, dankbar zu sein.
Und anzufangen zu leben.
25
Die hohe Pinie schwankt öfter im Wind; hohe Türme stürzen schwerer
in die Tiefe; und die Blitze treffen immer die höchsten Berge.
Horaz
Eingedenk Henrys Mahnung, die Angelegenheit erst zu besprechen, wenn sie allein waren, und im Bewusstsein der vielen neugierigen Blicke und lauschenden Ohren bildeten die Westons auf dem Weg die Klippen hinauf eine ernste, schweigsame Gesellschaft.
Zitternd und erschöpft gelangten sie beim Herrenhaus an. Lady Weston und Phillip erwarteten sie bereits in höchster Sorge. Sir Giles ignorierte die Fragen, mit denen sie bestürmt wurden, führte seine Söhne hinein und ließ für alle heiße Bäder bereiten.
»Gut, Vater«, sagte Henry, »aber danach müssen wir reden. Wir alle.«
Kurz darauf trafen die Smallwoods ein, und bevor alle ihrer Wege gingen, wurde ausgemacht, dass man sich in zwei Stunden treffen wolle.
Als Emma an Henry vorbeiging, gab sie ihm mit ernstem Gesicht seine Jacke zurück, zusammengefaltet und so gut wie ruiniert, wie seine Hoffnungen.
Zum festgesetzten Zeitpunkt fanden sich alle im Salon ein, manche widerwillig, andere begierig zu erfahren, was geschehen war und warum. Henry war überrascht, dass seine beiden Halbbrüder freiwillig kamen. Er hatte zwar den Lakaien, Jory, angewiesen, ein Auge auf Julian zu haben, doch anscheinend hatte man ihn nicht nötigenmüssen, zu kommen. War er so überzeugt von seiner Unschuld – beziehungsweise davon, sie den anderen einreden zu können?
Lady Weston saß in ihrem gewohnten Sessel; Sir Giles stand hinter ihr. Emma Smallwood und ihr Vater hatten auf einem kleinen Sofa Platz genommen, Lizzie und Phillip auf einem weiteren. Rowan und Julian hatten sich in Armsessel gesetzt. Henry stand am Feuer, die Hand auf dem Kaminsims.
Der einzige Weston, der fehlte, war Adam, doch Henry war nur zu froh, ihm die nun folgende, zweifellos harte Auseinandersetzung ersparen zu können.
Ohne irgendjemanden konkret zu beschuldigen, gab Henry eine Zusammenfassung der Ereignisse des Tages: die gefälschte Nachricht, die Miss Smallwood erhalten hatte; Mr Smallwood, der stattdessen zum Friedhof von Upton gegangen war; Henry, der Miss Smallwood in die Kapelle folgte; wie sie beide eingeschlossen wurden – und weggespült worden wären, als die Kapelle einstürzte, wenn Rowan sie nicht rechtzeitig erreicht hätte.
Als er fertig war, wandte er sich an Julian. »Warum hast du das getan?«
»Was getan?«, fragte Julian mit scheinbar unschuldig aufgerissenen Augen, deren eines sich bereits deutlich verfärbt hatte.
»Das weißt du ganz genau. Uns in der Kapelle eingeschlossen.«
Julian verschränkte die Arme. »Das war ich nicht. Das war Rowan.«
Rowan runzelte die Stirn. »Das ist gelogen, Julian.«
Julian drehte den Kopf und sah Lizzie an. »Sag es ihnen, Lizzie. Sag ihnen, wer es war.«
Lizzie verknotete die Hände ineinander. Sie biss sich auf die Lippen, sah von Henry zu Phillip und nervös zurück zu Julian. Dann flüsterte sie: »Du warst es.«
Julians Gesicht verzerrte sich. »Du treuloses …«
Wahrscheinlich hätten Schimpfworte gefolgt, doch Henry brachte ihn abrupt zum Schweigen, indem er ihm fest die Hand auf die Schulter legte.
Julian änderte seine Taktik und zuckte die Achseln. »Wenn ich es getan habe, dann war es nur ein Scherz.«
»Ein Scherz?«, rief Henry aus. »Miss Smallwood hinunterzulocken, als die Flut kam und ein Sturm bevorstand?«
»Ich konnte ja schließlich nicht wissen, wann sie gehen würde! Oder wie schlimm der Sturm werden würde.«
»Willst du mir auch weismachen, dass du nicht die Uhrzeiten in meinem Gezeitenbuch verändert hast, dass du nicht die Nachricht verfasst hast, in der du Mr Smallwoods Handschrift nachgeahmt
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