Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)
gesehen hätte. Aber das eine oder andere Buch habe sogar ich gelesen.«
Emmas Blick glitt über den Frisiertisch mit dem dreiteiligen Spiegel. Den Tisch schmückte ein Spitzendeckchen, darauf lagen und standen Kosmetika, Haarbürsten und Puderpinsel mit silbernen Griffen und eine Blumenvase aus Kristall. Auf dem Waschtisch stand ein weiteres Fläschchen. Das ganze Zimmer wirkte sehr weiblich und sehr … oberflächlich.
»Dürfen wir uns überhaupt hier drin aufhalten?«, flüsterte Emma.
»Warum nicht? Wollen Sie denn nicht sehen, was sie sich von ihrem ganzen Geld kauft?«
»Von ihrem Geld?«
Lizzie zog die Brauen hoch und lächelte boshaft, sagte aber nichts. »Kommen Sie mit.« Sie drehte sich um und ging voraus, zurück auf den Gang.
Die beiden hatten kaum die Tür hinter sich geschlossen, als die Person, von der sie gesprochen hatten, plötzlich um die Ecke bog und direkt auf sie zukam.
»Lizzie. Miss Smallwood. Was haben Sie denn hier zu suchen?« Eine schmal gezupfte Braue hob sich.
»Ich zeige Miss Smallwood nur das Haus«, antwortete Lizzie. »Irgendjemand muss es ja tun.«
Lady Weston blickte vom Gesicht des Mädchens auf die geschlossene Tür hinter ihr. »Wie nett von dir.«
Damit fegte sie an ihnen vorbei. Die Mädchen gingen weiter. Plötzlich ließ Lady Westons Stimme sie erneut innehalten. »Lizzie?«
Lizzie und Emma drehten sich um.
Violet Westons stahlharte Augen blickten von einer jungen Frau zur anderen. »Passt ein bisschen auf, wenn ihr euch hier überall herumtreibt. Ihr wisst ja, der Nordflügel ist … lasst ihn lieber aus. Er ist nicht sicher und nicht … sehr gut beleuchtet.«
Lizzies Augen blitzten neugierig auf. »Wirklich, Mylady? Das wusste ich gar nicht.«
»Es ist aber so, Lizzie. Sonst würde ich es nicht sagen.«
Lady Weston sah sie durchdringend an. »Also sei vorsichtig, Lizzie.«
»Das bin ich immer.«
Sobald Lady Weston in ihr Zimmer gegangen war und die Tür hinter sich geschlossen hatte, flüsterte Emma: »Was war das denn?«
»Keine Ahnung. Aber da fällt mir ein – ich wollte Ihnen noch etwas zeigen.«
»Aber … Lizzie! Warte doch!«
Emma musste sich beeilen, um mit dem jungen Mädchen Schritt zu halten, während sie die Stufen zum nächsten Stock emporstiegen, dem Stockwerk, in dem die Zimmer von Emma und ihrem Vater und auch die von Julian und Rowan lagen. Oben an der Treppe wandte Lizzie sich allerdings weder nach rechts noch nach links, sondern trat in eine kleine Nische. Dort hing, im hellen, durch Buntglasfenster fallenden Sonnenlicht, ein Porträt.
»Ich glaube, das dürfte ich Ihnen eigentlich nicht zeigen …«
Emma trat näher und blickte zu dem Ölgemälde in dem vergoldeten Rahmen auf. Durch das Buntglasfenster fiel herbstlich getöntes Licht auf das Bild und verlieh dem Teint der Person, die darauf abgebildet war, einen goldenen Schimmer. Es zeigte eine auffallend schöne Frau Anfang zwanzig, mit dichtem, dunklem Haar, feinen Gesichtszügen und Phillip Westons blauen Augen.
»Das ist die erste Lady Weston«, flüsterte Lizzie fast ehrfürchtig, wie Emma dachte. »Phillips Mutter. Und Henrys.«
»Ja, das sieht man«, sagte Emma. »Ich erkenne sie beide in ihrem Gesicht wieder, obwohl ich sie seit Jahren nicht gesehen habe.«
»Sie haben völlig recht«, stimmte Lizzie ihr zu. »Sie sehen ihr beide sehr ähnlich.«
Emma nickte, ganz im Bann des Bildes. »Warum wird es hier oben versteckt, wo doch die Zimmer der meisten Familienangehörigen unten liegen?«
Lizzie warf ihr einen sarkastischen Blick zu. »Was glauben Sie denn, warum?«
Emma hielt es für besser, nicht zu antworten.
Lizzie fuhr fort: »Ich finde, sie ist sehr viel schöner als die zweite Lady Weston. Aber sagen Sie ihr bloß nicht, dass ich das gesagt habe, ich würde es leugnen bis ins Grab.«
»Ich glaube kaum, dass es so weit kommt.«
»Da seien Sie sich mal nicht so sicher. So, und jetzt – sind Sie bereit für den wichtigsten Teil der Tour?«
Emma hoffte, dass damit nicht der verbotene Nordflügel gemeint war. »Und der wäre?«
Lizzie hob wieder die Brauen. »Die Zimmer von Phillip und Henry.« Sie hängte sich bei Emma ein und führte sie die Treppe wieder hinunter. »Ich nehme an, Sie sind noch nie im Zimmer eines Herrn gewesen.« Es klang sehr herablassend, beinahe anzüglich, wie sie es sagte.
Emma war versucht, zu widersprechen und ihr zu sagen, dass sie schon in Dutzenden von Herrenzimmern gewesen war. Natürlich waren die betreffenden Herren
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