Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)
Lady Weston.«
»Das habe ich mir beinahe gedacht.«
Danach trennten sich die Mädchen. Emma verbrachte den Rest des Tages mit ihrem Vater im Schulzimmer und aß später mit ihm und Mr Davies zu Abend.
Bevor sie an diesem Abend zu Bett ging, ergänzte sie die Listen in ihrem Tagebuch.
Lizzie Henshaw: reizend, amüsant, vorlaut, launisch;
sie verbirgt irgendetwas.
Lady Violet Weston: stolz, missbilligend, kalt, elegant;
sie verbirgt ebenfalls etwas.
Später, Emma hatte ihr Tagebuch längst beiseitegelegt, die Kerze ausgeblasen und war eingeschlafen, fuhr sie plötzlich aus dem Schlaf hoch. Was hatte sie diesmal gehört? Kein Heulen. Hatte vielleicht eine Türangel gequietscht? War ein Türschloss eingerastet? Einen Augenblick lag sie ganz still da, starrte in die Dunkelheit und lauschte. Ihr Zimmer war stockdunkel, bis auf die Glut im Kamin. Die Möbelstücke wirkten wie formlose Schatten. War das eine Menschengestalt dort oder nur ihr Schrank? Ihr Herz schlug schneller.
Sie setzte sich auf und flüsterte: »Wer ist da?« Doch noch während sie das fragte, kam sie sich albern vor.
Schweigen.
Da war niemand, sagte sie sich. Und wenn jemand da gewesen wäre, dann höchstens ein Diener, der nach dem Feuer sehen wollte. Damit hätte sie zwar nie gerechnet, mitten in der Nacht, aber wer sollte sonst in ihr Zimmer kommen?
Emma zwang sich, sich wieder hinzulegen, zog die Bettdecke hoch bis ans Kinn und schloss die Augen.
Dann roch sie es. Sie schnüffelte – was war das? Rasierseife? Herrenparfum? Wie seltsam! Diesen Geruch kannte sie nicht.
Sie blieb liegen, zwang sich, tief und ruhig zu atmen, die Augen geschlossen zu halten und an das Buch zu denken, das sie zurzeit las. Irgendwann schlief sie wieder ein.
Als sie aufwachte, fiel bereits das Licht der Morgendämmerung durch ihr Fenster. Es war still im Zimmer, das Feuer im Kamin war ausgegangen. Es musste noch sehr früh sein, denn Morva war noch nicht gekommen, um Feuer zu machen. Natürlich standen Emma und ihr Vater ganz unten auf Morvas Dringlichkeitsliste; zuerst musste siesich um die Schlafzimmer der Familienmitglieder kümmern. Emma war jedenfalls froh, dass es Frühling war und nicht Winter.
Als ihr der Schrecken von letzter Nacht wieder einfiel, ließ sie den Blick durchs Zimmer schweifen; alles wirkte völlig unberührt, war genau so, wie es sein sollte. Was hatte sie sich gestern Nacht nur gedacht?
Da sie den Nachttopf benutzen musste, war sie genötigt, das warme Bett zu verlassen. Sie erleichterte sich und trat dann in die Ecke an den Waschtisch, um sich Gesicht und Hände zu waschen.
Als sie sich wieder zu ihrem Bett umdrehte, trat ihr nackter Fuß auf etwas Scharfes, Hartes. »Autsch …«, murmelte sie und beugte sich hinunter, um den Gegenstand genauer zu betrachten.
Im trüben Licht des Morgens wirkte das kleine Ding einfach nur grau. Sie hob es auf und ging damit zum Fenster, um es genauer anzusehen. Plötzlich riss sie überrascht die Augen auf. Ein Spielzeugsoldat. Sofort war sie zurückversetzt in die Zeit im Smallwood-Pensionat, wo die Schüler an allen möglichen und unmöglichen Orten ständig kleine Holzmurmeln, Spielsteine und Zinnsoldaten mit spitzen Schwertern herumliegen ließen, auf die man dann trat.
Nur Henry Weston war immer sehr eigen mit seiner Zinnsoldatensammlung gewesen; er pflegte mit den Figuren historische Szenen oder die noch gar nicht so lange zurückliegenden Schlachten mit den Franzosen nachzustellen.
Nur gut, dass er im Moment in Familienangelegenheiten unterwegs war, sonst hätte sie ihn verdächtigt, gestern Nacht in ihr Zimmer eingedrungen zu sein. Bei der Vorstellung musste sie leise kichern. Sehr viel wahrscheinlicher war, dass der Zinnsoldat unter dem Bett oder zwischen den Bettdecken gelegen hatte, lang vergessen, und bei dem hastigen Herrichten des Zimmers für den unerwarteten Gast herausgefallen war. Ja, das war sehr viel plausibler.
Morva kam und half ihr beim Ankleiden. Danach ging Emma zum Frühstück nach unten. Vor einem der Vorderfenster in der Halle stand Lizzie und schaute hinaus.
»Guten Morgen«, grüßte Emma sie.
Lizzie sah zu ihr hinüber, blickte dann aber gleich wieder aus dem Fenster. »Ja, das ist es wirklich.«
»Du bist früh auf.« Neugierig trat Emma zu ihr und schaute ebenfalls aus dem Fenster, um zu sehen, was ihre neue Freundin da draußen so fesselte.
Über die Wiese hinter der Gartenmauer kam ein Mann auf einem kräftigen Rappen auf das Haus zugeritten. Mähne und
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