Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)
Ihnen erzählt?«
»Ach, wir haben sie nur geneckt«, sagte Julian. »Sie hat gesagt, sie hätte gestern Abend wieder gehört, wie jemand Klavier spielt, und wir haben gesagt, das muss ein Geist gewesen sein.«
Henrys dunkle Brauen hoben sich. »Gestern Nacht? Wann?«
Emma antwortete: »Gegen halb elf, glaube ich. Haben Sie es nicht gehört?«
»Ich … war aus.« Mit diesen Worten wandte er ihr den Rücken zu, trat ans Buffet, schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und setzte sichdann zu seinen Halbbrüdern. »Ich will nicht, dass ihr beiden Miss Smallwood solchen Unsinn erzählt.«
»Ich dachte, in diesem Fall ist der Unsinn besser als die Alternative«, sagte Julian.
Henry sah ihn finster an. »Wenn du nichts Sinnvolles oder Nettes sagen kannst, solltest du besser den Mund halten.«
Julian erwiderte seinen Blick. »Wie du willst.« Damit stand er auf, schleuderte seine Serviette auf den Stuhl und ging zur Tür. Dort blieb er stehen und warf Rowan über die Schulter einen auffordernden Blick zu.
Rowan, der den Wink etwas verspätet begriff, steckte sich rasch noch ein halbes Würstchen in den Mund, stand – die Serviette noch um den Hals – ebenfalls auf und folgte ihm.
Die beiden hatten das Zimmer kaum verlassen, als die Haushälterin, Mrs Prowse, in der Tür erschien. Sie runzelte besorgt die Stirn. »Es tut mir leid, Mr Weston, aber ich muss Sie kurz sprechen.«
Henry stellte die Kaffeetasse hin, er hatte noch gar nicht getrunken. »Natürlich. Entschuldigen Sie mich.«
Phillip hatte sich Emma gegenüber an den Tisch gesetzt. Er wartete, bis Henry draußen war, dann erklärte er ruhig: »Henry wird böse, wenn die Zwillinge über den Geist der verstorbenen Lady Weston sprechen. Unsere Mutter, wie Sie sicher wissen. Mir gefällt es auch nicht, aber es stört mich nicht so wie Henry. Henry nimmt es sehr ernst. Er will nicht, dass ihr Angedenken besudelt wird.« Er lachte leise. »Nicht einmal durch dumme Gespenstergeschichten von dummen Jungen.«
Emma hob verständnisvoll das Kinn. »Das würde mir auch nicht gefallen.«
»Natürlich nicht, Emma. Und keinem, der Ihre Mutter kannte, würde es in den Sinn kommen, etwas gegen sie zu sagen. Sie war immer sehr freundlich zu mir.«
Emma nickte. Ja, ihre Mutter hatte Phillip gemocht, wohingegen Tante Jane aus irgendeinem Grund stets Henry den Vorzug gegeben hatte.
Phillip langte hinüber und tätschelte ihre Hand. »Es gibt nichts, wovor Sie sich fürchten müssten, Emma. Die Jungen wollten Sie nur ein bisschen erschrecken.«
Sie mochte das Gefühl seiner Hand auf der ihren, sagte sich aber, dass es lediglich eine freundliche, tröstende Geste war.
»Ich weiß«, sagte sie.
Sie lächelten sich an, dann widmete Emma sich ihrem Frühstück.
Als Emma wenige Minuten später das Frühstückszimmer verließ, hörte sie hinten auf dem Flur ein Flüstern. Sie spähte um die Ecke und sah überrascht, dass Henry und Mrs Prowse zusammenstanden. Sein Kopf war geneigt wie der einer Sonnenblume, weil sie so viel kleiner war als er. Was konnten Henry Weston und die Haushälterin miteinander zu tuscheln haben? Doch ganz bestimmt nicht eine Änderung der Menüfolge?
Da sie, um nach oben zu gelangen, an den beiden vorbeigehen musste, bog Emma mit betont lauten Schritten in den Gang ein und summte dabei vor sich hin, um sie vor ihrem Kommen zu warnen.
Mrs Prowse blickte auf und blinzelte sie überrascht an, Henry richtete sich abrupt auf.
»Ja. Das ist alles, Mrs Prowse. Danke«, sagte er steif, sodass Emma sicher war, ganz bestimmt kein Gespräch über eine allgemeine Haushaltsangelegenheit gestört zu haben.
Aber … Geister?
Komm schon, Emma Jane Smallwood , schalt sie sich selbst. Du bist doch viel zu vernünftig für so etwas. Ebbington Manor schien allmählich ihren gesunden Menschenverstand zu trüben. Es war Zeit, solche Spekulationen im Keim zu ersticken.
Mit diesem Gedanken stieg Emma entschlossen zum Schulzimmer hinauf. Sie wollte überlegen, wie sie ihrem Vater helfen konnte, eine umfassende Unterrichtseinheit über das Thema Vernunft und Logik auszuarbeiten.
8
Ihr Herz erzitterte vor Schrecken …
Ann Radcliffe, The Mysteries of Udolpho
Am nächsten Abend saßen Henry und seine Brüder – Phillip, Julian und Rowan – nach dem Abendessen zusammen im Salon. Sie genossen das seltene Vergnügen, alle vier entspannt und gut gelaunt in Erinnerungen zu schwelgen; dass dies möglich war, mochte daran liegen, dass Lady Weston an diesem Abend eine
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