Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)
war, hoffte sie natürlich, dass Phillip angenehm überrascht war von ihrem neuen Aussehen oder auch einfach darüber, sie überhaupt wiederzusehen. Dabei fiel ihr ein, wie er sie gestern Abend angelächelt hatte, als er zu ihnen in das Büro des Verwalters gekommen war. Ja, ihm hatte eindeutig gefallen, was er sah.
Morva platzte herein und prallte beinahe zurück, als sie sah, dass Emma schon auf war und sich wusch, war aber gleichzeitig hocherfreut darüber. »Sie sind ja heute früh auf den Beinen, Miss.« Dann half sie ihr mit dem Korsett und dem lavendelfarbenen Kleid, das Emma sich herausgelegt hatte.
Während das Hausmädchen sie schnürte, fragte Emma: »Morva, hast du gestern Nacht jemanden Klavier spielen hören, kurz nach zehn?«
»Nein, Miss, ich hab nichts gehört. Aber ich hätte es sowieso nicht gehört, weil ich auf dem Dachboden schlafe.«
»Ich dachte, ich hätte jemanden gehört, aber als ich nach unten kam, war das Musikzimmer leer.«
Morva zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich war's Master Julian. Und er ist bestimmt zur Hintertür rausgeschlüpft, als er Sie kommen hörte.«
»Da ist noch eine Tür?«
»Ja. Die für die Dienerschaft. Sie führt zur Hintertreppe.«
»Oh …« Also hatte tatsächlich jemand gespielt, war jedoch entwischt, unmittelbar, bevor Emma hereinkam. Wahrscheinlich war es Julian oder Rowan, der nicht ausgescholten werden wollte, weil er so spät noch auf war. Wie dumm von ihr, dass sie letzte Nacht solche Angst gehabt hatte!
Emma frisierte sich, während Morva das Zimmer aufräumte. Danach holte sie tief Luft, sagte sich, dass es keinen Grund gab, nervös zu sein, und ging hinunter.
Vor dem Frühstückszimmer blieb sie kurz stehen, doch es war noch niemand da bis auf einen Lakaien, der neben der Hintertür wartete. Auf dem Buffet standen ein großer Kaffeespender, mehrere kleinere Teekannen, Tabletts mit Gebäck und Schüsseln mit den warmen Speisen. Es war ganz ähnlich wie in Mr Davies' Büro, nur gab es von allem sehr viel mehr.
Sie überlegte, ob ihr Vater wohl noch herunterkam oder ob er bereits gefrühstückt hatte und zu seinem Morgenspaziergang aufgebrochen war.
Emma ging hinein. Sie goss sich eine Tasse Kaffee ein und betrachtete sehnsüchtig die Zuckerdose, gestattete sich jedoch nicht ein einziges Stück. Der Lakai sagte ihr, dass die Milch für den Kaffee auf dem Tisch stand, und bot an, ihr frisch geröstetes Brot oder einen Muffin zu bringen, wenn sie wollte. Sie nahm an und setzte sich an den Tisch. Der Diener ging durch die Hintertür hinaus. Es war viel zu still. So ganz allein zu essen und die Aufmerksamkeit eines Dieners zu beanspruchen, machte sie noch verlegener, als wenn sie ein Zimmer voller Menschen hätte betreten müssen.
Erleichtert vernahm sie Stimmen im Flur. Leise miteinander sprechend traten Julian und Rowan ins Zimmer.
Julian kicherte über irgendetwas, was sein Bruder sagte. Bei ihrem Anblick riss er sich zusammen. »Ah – Miss Smallwood. Stimmt ja, Sie frühstücken ja jetzt mit uns. Das ist schön.«
»Danke.«
Sie sah zu, wie die Jungen sich beim Kakao und den Speisen bedienten und sich dann zu ihr an den Tisch setzten.
Emma eröffnete das Gespräch. »War das einer von euch, den ich heute Nacht am Klavier gehört habe?«
Die beiden Jungen wechselten einen Blick.
»Ich war's nicht«, sagte Julian.
Rowan hob die Hände. »Lass mich da raus. Ich spiele nur, wenn ich dazu gezwungen werde.«
»Dann muss es ein Geist gewesen sein«, sagte Julian mit glitzernden blauen Augen.
»Hier im Haus spukt's nämlich, müssen Sie wissen. Hat man es Ihnen nicht gesagt?«
Emma schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht an so etwas.«
Julian sah sie an. Die Andeutung eines Grinsens kräuselte seinen Mundwinkel. »Das werden Sie schon noch.«
Nachsichtig lächelnd fragte sie: »Und welche Art von Geist spukt auf Ebbington Manor – vielleicht ein schlecht behandelter Diener, der gestorben ist, während er für die undankbaren Westons Wasserkannen die Treppen hochgeschleppt hat?«
»Nein. Jemand, der der Familie sehr viel näher steht«, sagte Julian. »Der Geist der lieben verstorbenen Lady …«
In diesem Moment schlenderten Phillip und Henry herein und Julian verstummte abrupt.
»Guten Morgen, Miss Smallwood«, sagte Phillip fröhlich.
Henry zögerte zuerst, als er sie sah, dann verbeugte er sich steif. Anschließend blickte er zwischen ihr und seinen schuldbewusst dreinschauenden Halbbrüdern hin und her. »Was haben die beiden
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