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Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)

Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)

Titel: Die Tochter des Hauslehrers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Klassen
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den nackten Füßen in ihre Pantoffeln und warf ihren Hausmantel über. Sie überlegte kurz, ob ihr Haar wohl sehr zerwühlt war, doch dann sagte sie sich, dass das keine Rolle spielte. Sie würde sich Phillip oder Julian oder wer auch immer es war, der da spielte, ohnehin nicht zeigen – und außerdem hatte Phillip sie schon oft im Hausmantel und mit ungekämmtem Haar gesehen, als sie beide noch jünger waren.
    Das Feuer in ihrem Kamin war heruntergebrannt, aber sie nahm die Kerze trotzdem mit in der Hoffnung, dass die Lampe auf dem Treppenabsatz noch brannte und sie sie daran entzünden konnte.
    Sie drückte die Tür einen kleinen Spalt auf und schlüpfte hinaus. Dann ging sie den dunklen Gang hinunter, bog um die Ecke, schlich am Zimmer ihres Vaters vorbei – der offenbar schlief – und stieg die Treppe hinunter. Auf dem Absatz stand eine brennende Lampe, der Docht schon in einem kleinen Wachsteich. Sie hob das Glas und hielt ihre Kerze an das ersterbende Licht, dankbar, dass es wieder aufflackerte. Der Docht glühte noch einmal orangefarben auf und erlosch dann in einem schmalen, grauen Rauchstreifen, als hätte sie ihm mit ihrer Kerze die Flamme gestohlen.
    Emma stülpte das Glas wieder darüber und fuhr erschrocken zusammen, als es mit einem deutlichen Klirren gegen den Messingfuß stieß. Als sich jedoch im Haus nichts rührte, drehte sie sich um und stieg langsam weiter die Treppe hinunter.
    Noch immer drang die traurige Melodie zu ihr hinauf und zog sie wie magisch an; sie bohrte sich in ihr Herz wie die Pfötchen eines mit Krallen bewehrten Kätzchens – mit Schmerz gemischte Wonne.
    Im Erdgeschoss durchquerte sie die riesige, leere Halle. Ihre Kerze flackerte und warf seltsame Schatten auf die gekreuzten Schwerterund Schilde an den getäfelten Wänden. Sie wusste nicht genau, was sie tun sollte, wenn sie vor dem Musikzimmer stand. An der Tür lauschen oder hineingehen und herausfinden, wer der Spieler war? Wenn es Julian war – sollte sie dann sein Spiel loben und ihn freundlich ermahnen, ins Bett zu gehen? Und wenn es Phillip war – sollte sie die Gelegenheit nutzen, mit ihm allein zu sprechen? Sie fragte sich, ob die ungezwungene Kameraderie, die immer zwischen ihnen geherrscht hatte, auch dann weiter bestehen würde, wenn sie beide allein waren.
    Schließlich fasste sie sich ein Herz, drückte zögernd die Klinke hinunter und stieß vorsichtig die Tür auf. Dann hielt sie inne und lauschte. Die Musik hatte aufgehört, wann genau, konnte sie nicht sagen. Die Kerze vor sich in die Höhe haltend, trat sie ein, eine Erklärung auf den Lippen. » Tut mir leid, dass ich störe. Ich wollte nur sehen, wer der begabte Spieler ist. « Wer würde sie ansehen, ein erschrockener Julian oder ein lächelnder Phillip?
    Doch als das Kerzenlicht auf das Klavier fiel, war die Bank leer. Sie blinzelte. Sah wieder hin. Trat näher. Da saß niemand. Sie zog überrascht die Brauen hoch und flüsterte in das schwach erhellte Zimmer hinein: »Hallo?« Ihre Stimme war nur ein zittriges Flüstern. »Wo sind Sie? Ich wollte Sie nicht stören.«
    Die Schatten gaben keine Antwort. Sie drehte sich einmal um sich selbst, sodass die kleine Kerzenflamme in jede Ecke des Zimmers fiel.
    Des leeren Zimmers.
    Emma lief ein Schauer über den Rücken; sie bekam am ganzen Körper Gänsehaut. Hatte sie die Musik vielleicht nur geträumt? Dummes Ding . Es sah ihr gar nicht ähnlich, sich so etwas einzubilden.
    Sie ignorierte den neuerlichen Schauer, der ihr über den Rücken lief, verließ auf Zehenspitzen das Musikzimmer, stieg die Treppe hinauf, lief so schnell wie möglich in ihr Zimmer zurück, schloss die Tür hinter sich und schlüpfte unter die Bettdecke.

    Am nächsten Morgen stand Emma um sieben Uhr auf, weil sie zum ersten Frühstück mit der Familie Weston auf keinen Fall zu spät erscheinen wollte. Sie hoffte, bereits in Sicherheit mit ihrem Vater am Tisch zu sitzen, wenn die anderen allmählich eintrudelten; auf diese Weise würde sie nicht ein volles Zimmer betreten, Gespräche unterbrechen und ertragen müssen, dass sich aller Augen auf sie richteten.
    Während sie sich das Gesicht wusch und die Zähne putzte, betrachtete sie ihr Spiegelbild. Dabei fragte sie sich unwillkürlich, was Phillip wohl gedacht hatte, bei ihrem Wiedersehen. Hatte er das magere, schüchterne Mädchen gesehen, das er kannte, oder hatte es ihm gefallen, dass ihr Gesicht – und andere Teile ihres Körpers – voller geworden waren? Wenn sie ehrlich

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