Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)
Freundin besuchte und Lizzie mitgenommen hatte. Sir Giles hatte mit seinen Söhnen zusammen gespeist, dann jedoch erklärt, dass er zu Bett gehen wolle. Henry hatte allerdings den Verdacht, dass sein Vater nicht gleich auf sein Zimmer gegangen war – oder er hatte zumindest gehofft, dass er etwas anderes vorhatte. Doch jetzt tat es ihm leid, dass Sir Giles nicht bei ihnen geblieben war. Es hätte ihm gefallen, zu sehen, wie seine vier Söhne sich unterhielten, fröhlich scherzten und zusammen über alte Zeiten lachten.
Phillip sagte zu Julian und Rowan: »Es ist wirklich zu schade, dass ihr beiden nicht auf das Smallwood-Pensionat gegangen seid, so wie Henry und ich. Dann wüsstet ihr, wovon wir reden.«
»Na ja, jetzt haben wir Mr Smallwood und seine Tochter ja kennengelernt«, sagte Rowan. »Den Rest müssen wir uns eben dazu denken.«
»Ich kann das Smallwood-Pensionat fast vor mir sehen«, meinte Julian und ließ sich gegen die Sofalehne sinken. »Die kleinen, feuchten Schlafkammern, das zugige Schulzimmer oben unter dem Dach, Mr Smallwood, der endlose Sätze in unbeholfenem Latein vor sich hinleiert – vomo, vomere, vomui, vomitus … und Mrs Malloy, die auf einen Topfboden klopft, um alle zum Essen zu rufen – ›kommtschon, ihr schmutzigen kleinen Taugenichtse. Wascht euch die Hände oder ich wasch sie euch!‹«
Phillip brach in lautes Lachen aus und auch Henry verkniff sich ein Grinsen. Die Imitation war nicht schlecht. Doch unter dem resoluten Äußeren der Haushälterin – das vor allem zutage trat, wenn sie einem neuen Schüler die Leviten las – verbarg sich ein warmes, liebevolles Herz.
Phillip sprang plötzlich auf. »Emma! Ich hole sie. Sie muss die Chance haben, sich zu verteidigen.« Lachend lief er aus dem Zimmer, bevor Henry protestieren konnte.
Henry sah zu, wie Phillip im Hereintreten Miss Smallwoods Arm nahm, sie durch die Halle führte und in den Salon zog.
»Es ist keiner da außer uns Jungen«, neckte er sie. »Und ich weiß doch, dass Miss Smallwood noch nie vor einem Zimmer voller kleiner Rüpel klein beigegeben hat.«
Sie lächelte, schien aber trotzdem verlegen.
»Wir haben Julian und Rowan gerade erzählt, was sie alles verpasst haben, weil sie nicht auf das Pensionat Ihres Vaters gegangen sind.«
»Oje!«, murmelte sie.
Phillip begann: »Ich weiß noch, wie einmal, als Mr Smallwood es Emma überlassen hatte, eine Prüfung abzunehmen …«
»Hat er das wirklich getan?«, unterbrach ihn Henry. »Warum eigentlich?«
Phillip schürzte die Lippen. »Keine Ahnung. Als ich dort war, kam das öfter vor. Ich denke manchmal, dass ich von der Tochter genauso viel gelernt habe wie vom Vater.«
»Als ich da war, war das nicht so.«
Phillip zuckte die Achseln. »Da war Emma auch noch jünger.«
Und ihre Mutter war noch nicht krank – und ihr Vater noch nicht depressiv , dachte Henry.
Er überlegte, ob er noch einmal darauf zurückkommen sollte, doch als er sah, wie Miss Smallwood unbehaglich auf dem Sofa herumrutschte und die Hände ineinander verschlang, beschloss er, das Thema fallen zu lassen.
»Auf alle Fälle«, fuhr Phillip fort, »hat Frank Williams, der inzwischen übrigens Jura studiert und Anwalt werden will, ein Gefäß mit dem stinkigsten Käse geöffnet, den ich je gerochen habe, es unter seinen Stuhl gestellt und anschließend mit der Prüfung weitergemacht. Miss Smallwood, die natürlich annahm, was jeder in einem Zimmer voller Jungen annehmen würde, hat einfach ganz ruhig ein Fenster geöffnet, ohne auch nur ein einziges Wort der lateinischen Konjugation zu verpassen.«
Die vier Westons lachten und sogar Miss Smallwood erlaubte sich ein leises Kichern.
Julian wandte sich an Henry. »Jetzt bist du dran, uns eine Geschichte zu erzählen über einen deiner berühmten Streiche.«
Henry blickte zu Miss Smallwood hinüber und zögerte. »Ich … ich weiß gar nicht, was du meinst.«
»Und ob du das weißt. Ganz genau sogar. Wie du mitten in der Nacht an Miss Smallwoods Tür geklopft hast und dich dann fortgeschlichen hast, bevor sie geöffnet hat. Wie du eine Maus in einen Strumpf und dann unter ihre Bettdecke gestopft hast …«
»Und der Liebesbrief, den du geschrieben hast«, ergänzte Rowan zuvorkommend. »Und mit dem Namen eines anderen Schülers unterschrieben hast.«
Emma Smallwoods Augen weiteten sich; sie drehte sich mit hochgezogenen Brauen langsam zu ihm um.
Henry spürte, wie ihm unangenehm heiß wurde. Seine Krawatte kam ihm plötzlich viel zu
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