Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)
war versucht gewesen, ihr eines ihrer geliebten Bücher zu entwenden, aber das hatte er dann doch nicht übers Herz gebracht. Denn das, so wusste er, hätte ihr wirklich wehgetan.
Unter der Schachfigur lag eine seiner Erinnerungen an seine Mutter. Das Porträt, das oben im Alkoven versteckt war, zählte er nichtmit, denn es entsprach nur sehr entfernt seiner Mutter, so wie er sie in Erinnerung hatte. Es war gemalt worden, als sie noch sehr jung gewesen war, bevor die Ehe und die Geburten ihrer Figur Rundungen verliehen, feine Linien in ihr Gesicht gegraben und ihre Augen traurig gemacht hatten.
Henry legte die Schachfigur beiseite und nahm ein feines Taschentuch in die Hand, vergilbt vom Alter, und fuhr über die eingestickten Initialen: M. W. – Margaret Weston. In das Taschentuch eingeschlagen war ein grünes Parfumfläschchen. Er zog den festsitzenden Stöpsel heraus, hob das Fläschchen an die Nase und schloss die Augen. Der Duft löste eine Kette von Erinnerungen aus und beschwor eine Reihe flüchtiger Bilder von seiner Mutter herauf. Eine zärtliche Berührung seines Arms. Ein trauriges Lächeln. Große Augen, die ihn voller Liebe ansahen. Seine Wange an ihrer weichen Brust, er, geborgen in ihren Armen, und der Duft nach Maiglöckchen.
Doch genauso schnell, wie sie gekommen waren, begannen die Bilder sich wieder aufzulösen und zu verschwinden. Er konnte ihre Stimme nicht mehr hören. Und ohne die Hilfe des Parfums konnte er sich kaum noch ihr Gesicht vorstellen, sondern sah im Grunde nur noch diese Fremde vor sich, die junge Frau auf dem Porträt, die vor seinem inneren Auge erschien, wenn er an seine Mutter dachte. Kein sehr befriedigender Ersatz. Wie dankbar war er doch, dass die wenigen Tropfen Parfum, die ihm geblieben waren, wie ein Zauberelixier wirkten, das es ihm erlaubte, ihr liebes Gesicht immer wieder heraufzubeschwören.
Er verkorkte das Parfum wieder und faltete die letzte Erinnerung auseinander, ein kleines Rechteck edlen Briefpapiers, auf das sie ihre letzten Worte an ihn geschrieben hatte.
Sei mutig, mein lieber Junge. Und vergiss nicht.
Sie waren sauber von einem längeren Brief abgetrennt, einem Brief an seinen Vater, wie Henry annahm. Er erinnerte sich vage, dass Sir Giles ihm diesen Streifen gegeben hatte. Er hatte damals schon lesen können und hätte gern den ganzen Brief gelesen, aber vielleicht waren die letzten Worte einer Frau an ihren Mann zu privat für die Augen eines Kindes. Er hatte einmal gefragt, ob er ihn sehen dürfe, doch Sir Giles hatte es freundlich, aber bestimmt abgelehnt. Vielleicht würde er irgendwann noch einmal fragen. Henry beschloss, das Parfum oben auf dem Kästchen auf seinem Nachttisch stehen zu lassen, damit er sein Vorhaben nicht vergaß.
Er fragte sich, ob Phillip wohl auch solche Erinnerungen an seine Mutter besaß, doch das war eher unwahrscheinlich; er war noch sehr klein gewesen, als sie starb. Einen Moment überlegte er, ob er ihm die Sachen zeigen sollte, doch der Gedanke war ihm irgendwie unangenehm. Er würde noch einmal darüber nachdenken.
Emma unterrichtete nun schon mehrere Jahre das Fach Geografie und den Gebrauch des Globus. Sie hatte unzählige Reisetagebücher und andere Bücher von Weltreisenden gelesen und es gab wenig, was ihr größere Freude bereitete, als die neuesten Karten des Kartografen in Plymouth zu studieren. Die Kenntnisse ihres Vaters in den klassischen Sprachen, Griechisch und Latein, übertrafen die ihren bei Weitem, doch er war in der Welt der Antike zu Hause, Emma hingegen fühlte sich stärker von der gegenwärtigen Welt mit all ihren unerforschten Wundern angezogen.
Ihr Vater würdigte ihre Kenntnisse in Geografie, einem Gebiet, in dem sie ihm überlegen war, anfangs noch zögerlich, inzwischen jedoch mit kaum verhohlenem Stolz. Anders als Emmas Mutter hatte er sich nie Sorgen gemacht, dass die Leute sie vielleicht als Blaustrumpf abstempeln könnten.
Im Augenblick hockten Julian und Rowan einfach nur da, die Ellbogen auf dem Tisch, das Kinn in die Hände gestützt, mit abwesendem Blick vor sich hinstarrend.
Emma merkte, dass es Zeit war, ein wenig Leben in die Angelegenheit zu bringen. »Wir machen ein Spiel«, verkündete sie.
Julian richtete sich auf und sagte: »Ich mag Spiele.«
War das eine Anspielung in seiner jungen Stimme? Emma hoffte, dass sie sich irrte.
Sie gab dem Globus einen kräftigen Schubs, sodass er anfing, sich zu drehen. »Ein Punkt für jeden, der mir den Ort benennen kann, auf dem
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