Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)
es ihr nicht.«
Emma befürchtete, dass Henry nun glauben würde, sie hätte ihr Versprechen, die Sache geheim zu halten, gebrochen und würde sie für ein Klatschweib halten. »Ich werde in Zukunft daran denken.«
Jetzt war es an Lizzie, sie scharf anzusehen. »Die Tochter des Hauslehrers hat Geheimnisse? Hört, hört!«
»So habe ich es nicht gemeint!«
Lizzie betrachtete ihre Haube und den Umhang. »Wo gehen Sie hin?«
»Spazieren.« Emma zögerte kurz, dann fügte sie hinzu: »Möchtest du mitkommen?«
Lizzie lächelte, offensichtlich erfreut, gefragt zu werden. »Ja, gern. Ich hole nur schnell meine Jacke.«
Ein paar Minuten später kehrte sie zurück. Sie trug einen Strohhut mit einem Spitzenschal, den sie unter dem Kinn gebunden hatte, dazu einen kurzen Spenzer über dem Kleid und keine Handschuhe.
Emma verbiss sich eine mütterliche Ermahnung. Sie pflegte immer Handschuhe zu tragen, wenn sie ins Freie ging, schon seit ihrer Kindheit. Doch es war nicht ihre Aufgabe, Lady Westons Mündel zurechtzuweisen.
Sie schlenderten hinaus, durch den Garten und das Gartentor zum Küstenpfad. Der kühle Wind trieb Emma Tränen in die Augen, die warm über ihre Wangen rannen.
Vor ihnen, auf der Landspitze, stand eine Gestalt, mit dem Rücken zu ihnen, an einer Staffelei. Rowan.
Emma überlegte, ob er wohl etwas dagegen hatte, wenn sie ihn störten. Sie und Lizzie tauschten einen Blick, dann gingen sie langsam auf ihn zu.
Emma sagte: »Hallo, Rowan.«
Er sah sie schuldbewusst an. Rührte die Verlegenheit von seiner Arbeit her?
»Miss Smallwood. Ich … komme ich zu spät zum Nachmittagsunterricht?«
»Aber überhaupt nicht. Verzeihen Sie bitte. Wir wollten Sie nicht stören.«
»Ist schon in Ordnung. Es ist nichts Wichtiges.«
Emma blickte von dem Bild auf der Staffelei auf die reale Szene, die sich unter ihnen darbot. Das ruhige Meer schimmerte blaugrau im Sonnenschein. Über seine Oberfläche glitt ein grünes Segelschiff. Die weißen Segel gehisst, die Takelage im Wind knatternd, näherte es sich dem Hafen, der nördlich von ihnen lag.
Sie blickte zurück auf das Bild. Rowan hatte eine nächtliche Szene gemalt. Ein dunkles, stürmisches Meer, gekrönt von drohenden Schaumkronen. Eine rote Schaluppe, gefährlich weit auf die Seite geneigt, drohte an den zerklüfteten Felsen vor dem Hafen zu kentern. Die winzige Gestalt eines Mannes, den Mund weit aufgerissen, streckte dem Betrachter die Arme entgegen und flehte um Hilfe.
Emma blinzelte. Sie fragte zögernd: »Ist das … aus Ihrer Fantasie gemalt?«
Rowan schüttelte den Kopf, die Augen auf das Bild gerichtet. »Aus der Erinnerung.«
Emma starrte sein Profil an. »Sie sind Augenzeuge eines Schiffbruchs gewesen?«
»Von mehr als einem. Es gibt viele Schiffbrüche hier an der Küste.«
»Wirklich?«
Er nickte.
Lizzie sagte: »Es ist immer gefährlich, sich einer solchen offenen Küstenlinie zu nähern. Aber der natürliche Damm hier«, sie deutete auf die felsige Landzunge, die auf der einen Seite des Hafens verlief und ganz weit draußen von der Kapelle gekrönt wurde, »verengt den Eingang und erhöht das Risiko noch.«
Emma war überrascht, dass das Mädchen überhaupt etwas darüber wusste.
Rowan nickte bestätigend. »Schon viele Schiffe sind auf die Felsen aufgelaufen und viele Männer sind ertrunken, in Sichtweite des sicheren Hafens.«
Emma schauderte bei dem Gedanken, in diesen eisigen Wellen unterzugehen. Sie deutete auf Rowans Bild. »Wann ist das passiert?«
»Anfang dieses Frühjahrs.«
»Hat die Mannschaft überlebt?«
Rowan schüttelte den Kopf. »Nicht ein Einziger.«
»Konnte man denn gar nichts tun?«
Rowan zuckte die Achseln. »Sie meinen, außer darauf warten, dass die Leichen und die Fracht angespült werden?«
Wieder schauderte Emma. »Ja.«
Rowan zuckte die Achseln. »John Bray hat's versucht. Er versucht es immer.«
»Wer ist John Bray?«
»Der hiesige Wachtmeister und Bergungsfachmann.«
Lizzie schniefte. »Ich habe gehört, dass der Mann mehr Probleme verursacht, als er löst.«
Rowan warf ihr einen finsteren Blick zu, sagte aber nichts.
Emma blickte wieder auf das Bild. »Nun … es ist wirklich ziemlich gut, Rowan.«
Hinter ihr erklang eine Stimme. »Ja, das ist es wirklich.«
Emma fuhr herum. Hinter ihr stand Henry Weston und blickte von dem Bild auf seinen Bruder, fast väterlichen Stolz in den Augen. Durch den Wind hatte sie nicht gehört, wie er herangetreten war.
»Nicht so gut, wie es sein
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