Die Tochter des Ketzers
das Gefühl von Verlust – ließ sie doch nur daran denken, dass es einst etwas gab, was ihrem Leben Halt und festen Boden gegeben hatte und jetzt so unwiederbringlich verloren war. Das Bündel mit ihrer Reliquie – sie hatte es noch bei sich, sie hatte es nicht verloren. Aber sie empfand es nicht mehr als kostbaren Besitz, nur als Erinnerung an eine Kraft, die sie einst besessen hatte.
Caterina konnte die Tränen nicht zurückhalten, nicht das Gefühl von grenzenloser Einsamkeit bezähmen, nicht den Zweifel, dass es niemanden gab, der sich um sie scherte, sei es hier auf Erden – oder droben in einem leeren Himmel.
Sie legte den Kopf auf ihre Knie und weinte jene Tränen, die sie sich nach ihres Vaters Tod ebenso verbissen hatte wie nach ihrer Schändung. Sie weinte sich kraftlos und müde, bis ihre Augen brannten und die Kehle schmerzte, und als sie endlich nicht mehr von Schluchzen geschüttelt wurde, war sie so erschöpft, dass sie sich niederlegte und augenblicklich einschlief.
Sie erwachte erst Stunden später, von einem leisen Knacken an ihrem Ohr, von einem Schatten, der sich zu ihr beugte, von einer Stimme, die in ihr Ohr sprach.
Corsica 251 n.Chr.
Ich spürte ihre Hände auf meinen Schultern. Endlich hatten jene aufgehört zu beben. Selbst als ich sämtlichen Mageninhalt aus mir herausgespien hatte, hatte das Würgen nicht nachgelassen. Es schmeckte gallig in meinem Mund, und erst jetzt merkte ich, dass meine Wangen tränenfeucht waren.
»Es tut mir leid«, murmelte ich und wusste nicht, was ich meinte. Dass ich mich hier, vor ihren Augen erbrochen, jene grauenhafte, stinkende Stätte noch mehr verwüstet hatte. Dass sie mir gesagt hatte, wie sie sterben würde. Oder dass ich es war, die zu Gaetanus gelaufen und ihm über die geheimen Zusammenkünfte berichtet hatte.
»Es tut mir leid«, wiederholte ich und wandte mich zu ihr um.
Ich suchte ihren Blick. Nicht strahlend blau waren ihre Augen wie sonst, sondern grau, als wäre sie erblindet. Vielleicht war sie das auch. Vielleicht wollte sie gar nichts mehr sehen von der Welt und ihren Reizen.
Nur – was erhoffte sie vom Jenseits, dass sie so begierig war, dorthin zu kommen, obendrein durch einen Tod, wie er schändlicher, erbärmlicher, schmerzhafter nicht sein konnte?
»Es muss dir doch nicht leidtun, dass ich heimgehe zu Gott«, murmelte sie.
»Wie kannst du dich freuen zu sterben? Noch dazu auf diese ... Art? So sterben Sklaven; so sterben üble Verbrecher, so sterben Aufständische, die keine Römer sind ...«
»Gott liebt das Niedrige und das Verachtete. Jesus Christus hat sich darum gern erniedrigen lassen. Er war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz.«
»Aber ...«
»Christus lässt mich teilhaben an seinem Tod. Er wird mich auch an seinem Ewigen Leben teilhaben lassen.«
»Aber ...«
Diesmal unterbrach sie mich nicht. Ich brach selber ab und schwieg. Mir war nicht länger übel, mein aufgewühlter Magen hatte sich beruhigt. Ich wollte fort von hier, einfach fort von dieser Stätte – und zugleich wollte ich bleiben, von jenem Trost zehren, den sie mir spendete, allein durch ihre Gegenwart.
Warum war das so? Warum verzweifelte sie nicht, obwohl sie doch in jenem kalten Kerker hockte?
Sie muss stärker sein als ich, dachte ich plötzlich. Oder sie war frei.
Frei von der Welt. Frei von der Liebe. Frei davon, auf irgendetwas zu warten, was niemals geschehen würde.
Kurz war mir, als wäre ich in ein Gefängnis gesperrt seit jenem Tag, da ich mich gegen sie gewendet hatte, mich der Möglichkeit beraubt hatte, an dem Lauten, Entschlossenen, Herrischen teilzuhaben, das ihr Wesen ausmachte, und stattdessen in Gaetanus’ dunklem, kaltem Schatten verblieben war.
»Ich liebe Gaetanus«, gestand ich unvermittelt. »Ja, ich liebe meinen Herrn. Ich will, dass er mich sieht und meinen Namen ruft. Stattdessen hast du mich gesehen. Ist dein Herr Christus stärker als die Liebe?«
»Er selbst ist die Liebe!«
»Und tatsächlich stärker als meine Liebe zu Gaetanus? Wenn du wählen könntest zwischen deinem Glauben und der Liebe zu einem Mann, was würdest du tun?«
»Sie sind weggelaufen«, murmelte sie da – offenbar meinte sie Quintillus und Marcus. »Sie sind weggelaufen, sie sind nicht für den Glauben eingetreten. Mag sein, dass andernorts die Christen mutiger sind. Aber hier ... hier auf Corsica, da bin ich vielleicht die Einzige.«
Erstmals sprach sie nicht euphorisch, sondern einfach nur nachdenklich, ohne allen Triumph,
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