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Die Tochter des Königs

Titel: Die Tochter des Königs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Erskine
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bin selten unten. Mir gehen zu viele Fenster auf den Hof hinaus, da kriege ich das Gefühl, unter ständiger Beobachtung zu stehen.«
    »Das ist man vermutlich auch. Meinst du, ich könnte mal hinuntergehen?«
    »Klar. Es ist der große alte Schlüssel, der an der Wand neben der Kommode hängt. Du kannst ihn nicht übersehen. Geh zur Haustür hinaus und nach links, dann die erste Abbiegung wieder links, das ist eine enge Gasse zwischen zwei Häusern.« Sie gähnte. »Wenn du nichts dagegen hast, bleibe ich hier. Bis später!«
    Es war ein schmiedeeiserner Schlüssel. Jess nahm ihn vom Haken und folgte Kims Beschreibung, bog von der geschäftigen Straße in die Gasse ab, die ihr bislang noch gar nicht aufgefallen war. Das Pflaster war noch etwas feucht vom Regen der vergangenen Nacht. Und nicht nur vom Regen, wie sie mit einem gewissen Ekel feststellte. Dem Geruch nach zu urteilen wurde die Gasse seit Jahrhunderten auch als Abort benutzt. Jess blieb stehen und schaute die mehrere Stockwerke hohen, von keinem Fenster unterbrochenen Mauern zum Himmel hinauf. Am Ende der Gasse war ein hohes Tor mit einem schweren Schloss, das selbst antiquarischen Wert haben konnte. Vorsichtig steckte sie den Schlüssel hinein. Er ließ sich mühelos drehen, dann schob sie das Tor auf, das hörbar über die unebenen Pflastersteine schabte. Nachdem sie es wieder geschlossen hatte, fand sie sich in der geheimen Oase im Herzen des Palazzo wieder.
    Zu dieser Tageszeit lag der Garten im tiefen Schatten, nach der gleißenden Sonne der Straße wirkte es hier regelrecht kühl. Jess trat auf den gerechten Kiesweg und ging zu den Blumenbeeten rund um den zentralen Brunnen. Kein
Unkraut wuchs hier, die Beete wurden unverkennbar regelmäßig von kundiger Hand gepflegt, die niedrigen Buchsbaumhecken waren ordentlich gestutzt, Heliotrop, Salbei und Geranien zu kunstvollen Mustern gepflanzt. Jess schaute die hoch aufragenden Mauern des Hauses hinauf und versuchte, ihr Schlafzimmer auszumachen. Kims Wohnung war leicht zu finden, denn alle Fenster standen offen, obwohl die Läden vor den Fenstern bis auf eines angelehnt waren. Die Ausnahme war Jessʹ Zimmer. Hinter ihr fiel die Wasserfontäne plätschernd über die in Stufen angeordneten Brunnenschalen hinab, in denen hier und dort grüne Pflanzen wucherten, bis das Wasser gurgelnd im untersten Steinbecken verschwand. Jess schlenderte zu der Mauer, auf die sie von ihrem Fenster blickte, atmete den süßen Duft der Blumen ein und betrachtete das Beet unter ihrem Fenster. In der sorgsam gerechten Erde war kein Fußabdruck zu sehen. Kein Anzeichen dafür, dass irgendjemand hier gewesen wäre. Sie trat einen Schritt näher, und dann sah sie es. Im Beet, tief im Schatten der Buchsbaumhecke verborgen, lagen ein Wasserschlauch und eine Leiter, unsichtbar für jeden, der nicht so genau hinschaute wie Jess.
    »Das Schwein!« Mehrere Sekunden starrte sie die Gegenstände an, dann machte sie kehrt und marschierte zum Ausgang. Vielleicht würden die anderen ihr jetzt glauben! Sie war nur noch wenige Schritte vom Tor entfernt, als sie merkte, dass jemand sie von hinter dem Gitter aus beobachtete. Abrupt blieb sie stehen.
    »Daniel?«
    Sie konnte sein Gesicht in der dunklen Gasse nicht erkennen, nur die Silhouette und die Tatsache, dass er zu ihr herüberstarrte.
    Zwei Hände umfassten die Gitter. »Buonasera signora. Vorrei entrare. « Zu ihrer Erleichterung war die Stimme
heiser, alt. Es war nicht Daniel. »Vorrei entrare per visitare il bel giardino.«
    »Verschwinden Sie!«, rief Jess. »Das ist ein privater Garten! Privato! « Ihr Herz klopfte beängstigend, als der Mann am Gitter rüttelte. Sie hatte zwar abgeschlossen, aber der Schlüssel steckte im Schloss, nur wenige Zentimeter unterhalb seiner Hände.
    »Verschwinden Sie! Basta! « Er musste ihr in die Gasse gefolgt sein. Jetzt, da ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah sie ihn auch deutlicher. Sein Gesicht war hager und von längeren Bartstoppeln verunziert, und sein Körpergeruch trieb bis zu ihr herüber. Er lachte heiser auf, dann drehte er sich um, schlurfte ein paar Schritte Richtung Straße und blieb wieder stehen. Jess ging zum Tor und zog hastig den Schlüssel aus dem Schloss, und dabei wurde ihr klar, was er dort tat. Nachdem er sich ausgiebig gegen die Wand erleichtert hatte, lachte er noch einmal heiser auf und ging dann weiter. »Arrivederci signora!«, rief er, als er die Straße erreichte und außer Sichtweite verschwand.
    Kim

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