Die Tochter des Königs
mehr gehört habe.« Melinus nickte wieder nachdenklich. »Genau diese Überzeugung hat ihn in fremde Länder geführt, um das Wort Jesu zu verbreiten.«
In der Nacht beteten beide zum Herren Jesus, Pomponia inbrünstig, Melinus mit einer gewissen Zurückhaltung. Beide erwähnten in ihren Gebeten Caradoc.
Als sie am nächsten Morgen in die Villa kamen, war der Kranke aufgestanden und schlenderte mit ungewohnter Tatkraft durch den Garten. Pomponia Graecina und Melinus tauschten einen Blick, sagten aber nichts. Beide waren von Natur aus skeptisch und warteten ab, wie viel der neue Gott tatsächlich bewirken würde.
»Eigon?« Abrupt nahm Jess ihre Umgebung wieder deutlich wahr. »Was ist passiert? Wo warst du?«
Aber die Vision war fort. Jess saß allein im tiefen Schatten kurz hinter dem Viale del Muro. Sie verließ den Park über die Brücke, die die Schnellstraße rund um die alte Stadtmauer überspannte, ging durch den Pincio-Park an der berühmten Wasseruhr vorbei auf den Belvedere zu, von dessen Höhe sich ein Panoramablick über Rom zum Petersdom bot. Jess erstarrte vor Schreck. Das war doch genau der Blick von der Mauer der Villa! Eigons Zuhause war irgendwo hier gewesen, auf einer Erhebung über der Stadt mit Blick nach Westen. Der Pincio. Jetzt fiel ihr auch der Name wieder ein. Eigon hatte ihn selbst genannt. Zu Eigons Zeiten würde es völlig anders ausgesehen haben, doch die Konturen würden dieselben gewesen sein, und wo jetzt Kirchen und Kuppeln zu sehen waren, würden Marmortempel gestanden haben. Lange Zeit verharrte Jess an dieser Stelle und schaute über die Piazza del Popolo hinweg in die Ferne, versuchte, den Wald von Antennen auszublenden, der auf jedem Hausdach wucherte, versuchte, die dazwischen liegenden
zweitausend Jahre auszulöschen. Schließlich gab sie auf und suchte sich unter den Platanen und Steineichen, Zedern und Palmen eine Bank, auf der sie sich im Schatten ausruhen konnte. Es war sehr friedlich hier, trotz des unablässigen Dröhnens des Verkehrs in der Ferne. Sie holte ihren Skizzenblock heraus und schlug ihn auf. Wenn sie gehofft hatte, dass die Zeichnungen und Aquarelle wie durch Zauberhand wiederhergestellt sein würden, so wurde sie enttäuscht. Traurig betrachtete sie das Porträt von Eigon, das so wütend durchgestrichen war. Was wollte sie ihr damit sagen?
Der Nachmittag war sehr heiß.
Jess, wo bist du?
Die Stimme kam aus großer Ferne. Eine Männerstimme. Daniel. Erschreckt schaute Jess sich um. Er konnte unmöglich hier sein.
Du weißt doch, dass ich dich finde.
Der spöttische Ton trieb auf der warmen Brise zu ihr. Langsam stand Jess auf, panisch suchte sie die Schatten ab, die nach dem grellen Sonnenlicht pechschwarz wirkten.
»Daniel?« Ihre eigene Stimme klang im Vergleich dazu tonlos, wurde von der schwülen Luft absorbiert und verklang ohne Widerhall.
Jess! Er war noch weiter entfernt.
»Er ist nicht hier«, flüsterte sie sich selbst zu. »Ich brauche ihn nur zu ignorieren. Er denkt an mich aus der Ferne. Er spielt mit mir. Greift in meinen Kopf ein! Das beweist, dass er nicht weiß, wo ich bin.«
Sie ließ sich unter einem Baum auf das vertrocknete Gras sinken und lehnte sich an den Stamm, die Arme um die Beine geschlungen. »Lass mich in Ruhe, du Schuft!« Sie murmelte die Worte fast lautlos vor sich hin und schloss die Augen. »Eigon? Was ist passiert? Wo bist du?«
Keine Antwort.
Seufzend machte sie die Augen wieder auf, verlagerte ihr Gewicht, so dass ihr Rücken fester gegen den Baumstamm drückte, und spürte etwas in ihrer Hosentasche. Sie holte es heraus. Carmellas Visitenkarte. Die hatte sie ganz vergessen.
Carmella wohnte in einem Dachgeschoss-Appartement in einer kleinen Straße ganz in der Nähe der Piazza di Spagna. Jess schaute in ihren Führer, dann lief sie die lange, in der Hitze glühende Spanische Treppe hinunter und vorbei an der Fontana della Barcaccia Richtung Via delle Carrozze. Bars und Cafés passierend, bog sie in den Schatten einer engen Straße, schlängelte sich an Motorrollern und geparkten Autos vorbei und fand sich in der Straße wieder, in der Carmella wohnte. Bald hatte sie zwischen den ganzen verblassten ocker- und terracottafarbenen Gebäuden auch das richtige Haus entdeckt. Über die Gegensprechanlage an einer uralten Tür gelangte Jess ins Haus, um am Ende von vier ermüdenden Etagen von Carmella empfangen zu werden. Sie bat sie in eine helle, nicht sehr hohe Wohnung mit unbehandelten Holzdielen und
Weitere Kostenlose Bücher