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Die Tochter des Königs

Titel: Die Tochter des Königs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Erskine
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geschlossenen Fenstern, unter denen die Straße verlief.
    Carmellas Wohnung war eklektisch, aber behaglich eingerichtet, mit vielen Fransen, Perlen und bunten Farben, die Wände waren mit Gemälden praktisch tapeziert, die ihr zumeist befreundete Künstler aus dem Viertel geschenkt hatten, einige gut, einige ausgesprochen schlecht, wie Carmella freimütig zugab. Sie führte Jess an exotischen Farbtupfern vorbei zu einer Tür, die auf eine kleine Dachterrasse führte, und dort erwarteten sie eine weitere Farbenpracht aus Blumen und Pflanzen in bunten Töpfen und ein Blick über die Dächer zu den Türmen der Trinità dei Monti und weiter zum Pincio.

    »Das ist ja unglaublich schön hier!«, rief Jess entzückt, während ihre Gastgeberin sie mit sanftem Druck nötigte, sich auf das Kissen eines schmiedeeisernen Stuhls im Schatten von Farnen sinken zu lassen. Irgendwo in der Nähe ließ in der kaum wahrnehmbaren Brise ein Windspiel eine ätherische Abfolge von Tönen erklingen.
    Carmella lächelte. »Es ist besser, dass du allein gekommen bist. Es gibt Dinge, über die wir uns unter vier Augen unterhalten müssen, nicht wahr?« Sie brachte zwei Gläser mit Weißwein und ein Schüsselchen mit Oliven und stellte alles auf den Glastisch. Dann ging sie ins Wohnzimmer und kehrte mit einer Webtasche zurück, die sie zwischen die Stühle auf den Boden legte. »Meine Ausrüstung für chiaroveggente . Kim nennt es Hellsehen. Ihr habt im Englischen kein Wort dafür, was ich merkwürdig finde.«
    »Wahrsagerei, in die Zukunft blicken, Weissagung, zweites Gesicht?«, schlug Jess vor. »Ich glaube, im Englischen gibt es viele Wörter dafür, wie für alles.«
    Carmella zuckte mit den Schultern. »Wie auch immer. Zu meiner Ausrüstung gehören meine Karten, meine sfera di cristallo , das I Ging - eben alles, was ich für die predizione del futuro brauche.«
    Jess lächelte. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sie sich sicher. Sie lehnte sich entspannt in ihren Stuhl zurück und war froh, sich und ihre Zukunft in Carmellas Hände legen zu können.
    »Vor den anderen könnte ich das nie tun. Sie würden sich über mich lustig machen. Für sie ist das ein netter Zeitvertreib.« Carmella beugte sich vor und streckte die Hände nach Jessʹ Händen aus. »Zeig mir deine palmi . Wir nennen das la chiromanzia .«
    »Chiromantie. Handlesekunst.« Jess grinste.

    Carmella nahm ihre Hände und betrachtete sie lange Zeit, fuhr mit dem kleinen Finger ihrer Rechten sacht die Linien nach. Jess wartete schweigend. Plötzlich war sie nervös.
    Schließlich ließ Carmella ihre Hände sinken und lehnte sich lächelnd zurück. »Deine Hände erzählen mir von dir. Für deine Freundin Eigon brauche ich la sfera .« Sie holte aus ihrer Tasche einen in schwarzen Samt gehüllten, offenbar schwereren Gegenstand, den sie ehrfürchtig auswickelte - eine Kristallkugel. Sie hatte einen Durchmesser von etwa zwölf Zentimetern, und als Carmella sie auf einen Polsterring vor sich auf den Tisch stellte, schillerten ungewöhnliche Einschlüsse und Regenbogen darin.
    Jess sah sie gebannt an. »Sie bewegt sich ja, als wäre sie lebendig.«
    »Das ist sie auch. Sie ist Hunderte von Jahren alt und seit Generationen in meiner Familie. Und meine Großmutter hat sie mir vererbt.« Mit einem Lächeln schaute Carmella auf. »Bitte erzähl Kim nichts davon. Sie würde mich damit nur aufziehen. Wenn sie zu Besuch kommt, verschwindet diese Tasche« - sie deutete auf den Beutel zu ihren Füßen - »hinters Sofa. Sie weiß nur von den Karten.«
    Bedächtig bewegte sie ihre Hände, leicht gewölbt zum Schutz vor dem Sonnenlicht, über die Oberfläche der Kugel. »Normalerweise lese ich die Kugel bei Kerzenschein im Dunkeln, aber heute brauchen wir die Sonne.«
    Jess saß am Rand ihres Stuhls und verfolgte gebannt, was ihre Gastgeberin tat. »Warum?«
    »Ich will Licht auf die Vergangenheit werfen, nicht die Schatten ergründen. Deine Eigon will dir ihre Geschichte erzählen. Wir brauchen ihr nicht nachzuspionieren.«
    »Und Daniel?« Die Frage stellte Jess im Flüsterton.

    »Daniel ist in deinen Karten und auch in deiner Handfläche. Und er ist in deinem Kopf.« Unvermittelt schaute Carmella auf. »Das stimmt doch, oder?«
    Jess schaute sie erstaunt an. Sie hatte ihr nichts von der Stimme im Park erzählt. »Du weißt, dass ich ihn gehört habe?«
    »Du bist ein Medium. Es wäre schwer, ihn nicht zu hören. Seine Stimme füllt den Raum um dich.« Carmella schauderte. »Also.

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