Die Tochter des Königs
Schulter zur offenen Tür. Sie merkte, dass sie schon jetzt wenig Lust verspürte, diesen friedlichen Ort zu verlassen, trotz der manchmal beklemmenden Echos. Andererseits musste sie ein paar Sachen besorgen, und vielleicht würde ihr ein Tapetenwechsel guttun.
Sie trafen sich um halb eins in der Bar des Kilvert. Draußen waren keine Tische mehr frei, also setzten sie sich innen an einen Tisch, der am Fenster stand.
»Und? Geht’s dir jetzt mit allem etwas besser?« Er stellte ein Glas Wein vor sie, nahm ihr gegenüber Platz und musterte sie kurz. »Du siehst müde aus.«
Sie lächelte gequält. »Ich habe ein paar ziemlich abenteuerliche Alpträume gehabt.« Es tat ihr gut, sich jemandem anvertrauen zu können, allerdings hatte sie nicht vorgehabt, es so schnell und so unmittelbar zu tun.
»Und wovon handeln sie?« Er schaute zur Seite und trank einen Schluck Bier.
»Von einem kleinen Mädchen.« Sie zögerte und überlegte, ob sie ihm Einzelheiten erzählen sollte. »Zwei kleinen Mädchen. Offenbar gehen sie in Stephs Haus um.« Sie warf einen Blick zu ihm, um seine Reaktion abzuschätzen.
»Sie gehen um? Wirklich?« Eindeutig belustigt schaute er in sein Glas. Dann schob er die Speisekarte zu ihr über den Tisch, immer noch ohne sie anzusehen. »Willst du dir nicht was aussuchen? Wie sieht das mit dem Umgehen denn aus?«
Jess zuckte mit den Schultern. »Wie schon gesagt, Alpträume, und ich glaube, ich habe sie auch schon gesehen.«
»Irre.« Er studierte immer noch die Speisekarte. »Hat Steph sie auch gesehen?«
»Sie sagt, sie habe den Verdacht, dass es ein Gespenst gibt.«
»Und was passiert in deinem Albtraum?« Seine braunen Augen blitzten, als er schließlich zu ihr sah.
»Eines der Mädchen wird vergewaltigt.«
Sie sah den Schreck in seinem Gesicht. Er legte die Speisekarte beiseite und drehte sich um, so dass er zur Tür hinaus nach draußen sah. Die Sonne brannte auf die Schirme, unter denen Menschen dicht gedrängt an den Tischen saßen.
»Vergewaltigt?«, wiederholte er.
Sie nickte. »Von römischen Soldaten.«
»Das muss ja ein ziemlich scheußlicher Traum sein.« Jetzt wich er ihrem Blick wieder aus.
»Das war es auch.« Auf einmal bereute sie es, ihm davon erzählt zu haben.
Darauf setzte ein längeres Schweigen ein, während sie beide wieder die Speisekarte studierten. Abrupt stand Daniel auf. »Ich gehe mal bestellen. Was möchtest du denn?«
Als er zurückkehrte, brachte er ihr ein zweites Glas Wein mit. »Hat William sich bei dir gemeldet?«
»Er hat mich ein paarmal auf dem Handy angerufen.«
»Und?«
»Und nichts.«
Wieder entstand eine Pause. Als Jess sich zum Thema William ausschwieg, fragte Daniel: »Und Ashley? Hat der sich gemeldet?«
Sie seufzte. »Ash ist in meine Wohnung eingebrochen, kurz bevor ich weggefahren bin. Er hat mir einen Blumenstrauß hingelegt als Dankeschön, dass ich ihn unterrichtet habe.«
»Eingebrochen?«, fragte Daniel. »Was meinst du mit eingebrochen?«
»Die Blumen lagen einfach auf dem Couchtisch. Vielleicht hatte ich ja die Tür offen gelassen, aber das glaube ich eigentlich nicht.«
»Und du warst nicht da?«
»Nein.«
»Und als du wiederkamst, war er schon weg?«
Sie nickte. »Ich war nur zehn Minuten weg, Daniel. Er muss mich beobachtet haben. Das hat mir wirklich Angst gemacht.«
»Aber jetzt kann dir nichts passieren.«
Sie nickte wieder. »Weißt du, was er den Sommer über machen will, bis er die Prüfungsergebnisse bekommt?«
Daniel schüttelte den Kopf. »Er glaubt felsenfest, dass sie gut sein werden. Ash ist ziemlich von sich selbst überzeugt. Er glaubt, die Schauspielschulen werden sich um ihn reißen.«
»Und um die zu besuchen, braucht er nicht einmal das Fachabitur.«
»Nein.«
Als das Essen serviert wurde, schauten sie beide auf. »Es wäre schade, seine Chancen zu ruinieren. Eine Vorstrafe wäre sein Ende«, sagte Daniel leise und griff nach dem Besteck. Schließlich sah er Jess direkt an. »Denk nicht mehr an ihn, Jess. Oder an William. Vergiss sie einfach. Mach dir hier einen schönen Sommer.« Er steckte sich einen Bissen
in den Mund. »Was willst du denn in dem alten Bauernhaus machen?«
»Malen.« Jess sah auf ihren Teller.
»Ganz allein?«
Sie nickte.
»Und bist du glücklich darüber?«
»Mir geht’s gut damit, Daniel. Ich bin gern allein.«
»Mit einem Gespenst?«
Sie lächelte gezwungen. »Es sind keine Gespenster, die mir Angst einjagen. Nur zwei kleine Mädchen.«
Es entstand eine
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