Die Tochter des Königs
»Ich dachte, ich hätte jemanden rufen gehört. Entschuldige. Die Hitze macht mir zu schaffen.«
»Kim sagt, dass es ganz in der Nähe eine Eisdiele gibt.« Steph schaute sie besorgt an. »Du hast nach Eigon gerufen.«
Matt schüttelte Jess den Kopf. »Ich dachte, sie wäre hier. Ich habe das Gefühl, dass ihre Villa hier gestanden hat. Dieser Ort hat was, eine ganz besondere Atmosphäre.«
William und Kim waren rund fünfzig Meter vor ihnen im Schatten einer Platane stehen geblieben und schauten wartend zu ihnen.
»Bitte sag ihnen nichts davon«, bat Jess und sah ihre Schwester flehend an. »Sie halten mich sowieso schon für verrückt.«
»Das stimmt nicht. Wir haben uns bloß in der Hitze alle überanstrengt, mehr nicht. Jetzt gibt’s ein Eis oder was zu trinken, und dann fahren wir mit dem Taxi nach Hause. Mach dir keine Sorgen, Jess.« Mit einem aufmunternden Lächeln drehte Steph sich um und ging zu den anderen. Jess warf einen Blick über die Schulter zurück. Jetzt sah sie wieder
die Gruppe Kinder, hörte sie schreien und rufen. Sie waren überhaupt nicht weit weg. Wie konnte sie sie nicht bemerkt haben?
Pomponia Graecinas Nichte, die lebhafte, hübsche Pomponia Julia, war eine von Eigons ersten richtigen Freundinnen gewesen, und seit kurzem wohnte sie sogar bei ihnen. Ihre Mutter war im vergangenen Winter gestorben, und da ihre Geschwister alle wesentlich älter waren als sie, fühlte sich Julia im strengen Haushalt ihres Vaters sehr allein und war überglücklich, bei ihrer Gefährtin Eigon leben zu dürfen. Cerys war weniger erfreut. Julia hatte einen schlechten Einfluss. Sicher, sie war ein aufgewecktes, bildhübsches, intelligentes Mädchen, aber auch von Natur aus rebellisch, und die ernsthafte Atmosphäre, in der Eigon als einziges Kind ihrer Eltern und einzige Schülerin von Melinus aufwuchs, entsprach ihr im Grunde gar nicht.
Melinus hatte einen strikten Tagesablauf eingeführt. Er unterrichtete Eigon täglich und wiederholte das, was sie lernen sollte, so lange, bis sie es wortgenau wiedergeben konnte. Nie ließ er sie etwas aufschreiben, sondern schulte ihr Gedächtnis, und sie sog alles Wissen, das er ihr weitergeben konnte, begierig auf. Ihr einziger regelmäßiger Zeitvertreib war, die Lyra zu spielen und zu singen. Sie hatte eine klare Stimme, die ihren Vater entzückte wie auch jeden anderen, der sie zufällig hörte, und so sang sie häufig, auch wenn sie allein durch den Garten schlenderte.
Dort in den Gärten hörte sie auch manchmal ihre Schwester rufen. Die Stimme kam aus so großer Ferne, dass sie kaum zu verstehen war. Glads spielte immer noch dort auf dem Berg, suchte immer noch nach ihrer Familie, wartete immer noch, dass sie wiederkehrten. Eigon gab sich alle Mühe, sie mit ihren Gedanken zu erreichen, ihr zu versichern, dass
sie nicht vergessen war, doch Glads schien sie nicht zu hören, und Eigons Sehnsucht nach ihr wuchs. Es war eine Sehnsucht, von der sie ihren Eltern nichts sagen durfte.
Der Zustand von Eigons Vater verschlechterte sich zusehends. Im Herbst bekam er wieder heftiges Fieber, das ihm alle Kraft raubte. Ihre Mutter wich nicht von seiner Seite. Sie und Melinus berieten sich mit den römischen Ärzten, um ihn zu heilen, damit er das Haus verlassen und den Kaiser aufsuchen konnte, der seine Aufwartung forderte und mit zunehmender Ungeduld auch nach einer Belohnung verlangte für seine großzügige Geste, ihr Leben verschont zu haben. Bisweilen war Caradoc genug bei Kräften, um im Garten am Brunnen zu sitzen. Manchmal saß er nur da und lauschte auf das Plätschern des Wassers und das Zwitschern der Vögel, manchmal bat er auch um Musik, und dann kam Eigon mit ihrer Lyra. Ihre Mutter hatte dafür gesorgt, dass sie ein paar Gefährtinnen hatte, und so spielte und redete sie mit Portia und Julia und Octavia, doch am liebsten wanderte Eigon allein zwischen den viereckigen Beeten des Kräutergartens mit seiner sorgsam gepflegten Symmetrie. Diese Beete waren völlig anders als die Gärten, die sie von zu Hause kannte, hier war die Natur gezähmt und in exakte Formen gezwungen worden. Oft berührte Eigon die gestutzten Pflanzen, sprach mit ihnen und bedauerte sie wegen ihrer Gefangenschaft, die sie vielleicht als Spiegelbild ihrer eigenen betrachtete. Nach einer Weile liebte sie die friedlichen, heilenden Beete mit dem Lavendel und dem Rosmarin, doch sie fühlte sich eingeengt, nie durfte sie in die Stadt hinaus. Wenn der Wind aus der richtigen Richtung kam,
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