Die Tochter des Leuchtturmmeisters
den Küchentisch gesetzt, vor ihr lag das Logbuch. Die Seiten waren abgegriffen und handschriftlich nummeriert. Ganz oben auf jedem Blatt befand sich ein vorgedrucktes Feld zum Eintragen von Datum, Uhrzeit, Schiffsposition, Besatzung, zurückgelegter Strecke während der vergangenen vierundzwanzig Stunden, Wetter, Windrichtung und eventuellen Gezeiten. Diese vorgedruckten Felder waren nach allen Regeln der Kunst ausgefüllt, und den Rest der Seite bedeckte eine altmodisch verschnörkelte schöne Handschrift, die perfekt waagerecht blieb, obwohl das Papier unliniert war. Diese Handschrift erkannte Anita nur zu gut wieder. Nicht nur, weil es die von Karl-Axel war, sondern genau diese Schrift befand sich auch auf der kleinen Axt, die sie auf dem Schiffsmodell in der Bibliothek entdeckt hatten. Sie strich mit der Hand über das Papier. Schon auf Seite vier fiel ihr etwas auf.
»Per!«, sagte Anita. »Guck mal, was da steht.«
Per setzte seine Gleitsichtbrille auf und drehte das Logbuch zu sich hin. Die trockenen Brotkrümel, die noch vom Frühstück auf dem Holztisch lagen, kratzten am Einband.
»Himmel noch mal«, sagte Per. »Glaubst du, das stimmt?« Er nahm die Brille ab und schaute Anita an. Die MS Stornoway und ihr nicht namentlich erwähntes Schwesterschiff hatten Peterhead an der schottischen Ostküste verlassen, nachdem sie in der Werft gelegen hatten, wo ihre Ruder überprüft worden waren. Zuvor waren noch acht Kisten verladen worden.
»Über den Inhalt der Kisten steht nichts hier, auch nicht, wie die Last auf die beiden Schiffe verteilt wurde. Seltsam. Am9. Oktober 1951 verlassen die Schiffe Peterhead in Schottland und fahren über die Nordsee nach Schweden. Man begibt sich nicht unnötigerweise über die Nordsee, schon gar nicht im Oktober«, sagte Per nachdenklich.
»Du, rate mal, welche Leute hier als Skipper genannt werden – Karl-Axel Strömmer und Arvid Stiernkvist.
»Darf ich? … Hm, keine schlechten Jungs«, sagte Per. »Aber ich finde, jetzt sehen wir mal auf 113 nach.«
Gemeinsam beugten sie sich über das Buch und hielten den Atem an, als Anita feierlich die dicke Seite mit der Nummer 111 umblätterte. Das Problem war nur, dass die entsprechende Seite fehlte. Man hatte sie einfach herausgerissen.
»Verdammt!« schrie Per enttäuscht.
»Das ist komisch«, sagte Anita. »Und hier auf Seite 115 haben wir wieder Karl-Axels Gedicht.«
»Was ist daran komisch?«, fragte Per.
»Der Anfang ist derselbe, aber am Ende stehen ein paar neue Zeilen. Hör dir das an.«
»Nein«, sagte Per. »Wir rufen jetzt Bruno an und fragen, ob er zufällig ein Blatt aus dem Buch entfernt hat.«
Per ging ans Telefon, und ein beleidigter Bruno versicherte, dass er natürlich nichts aus dem Buch herausgerissen hatte. In der Zwischenzeit las Anita das Gedicht noch einmal durch, mitsamt der hinzugekommenen Zeilen.
Neptuns Hügel und Monsungebirg’
mit weißen Kämmen dann und wann
in ständig wechselndem Farbgewirk.
Dorther durch Nebel, Gischt und Gebraus
weißblitzend grüßt das Elternhaus.
Die Braut so auffallend schön,
voll Stolz steht der Bräutigam, doch nie ward er gehend gesehn.
Ein Gerät aus vergangener Zeit
vom Ort der Ruhe nicht weit.
»Bis hierher ist es dasselbe wie auf dem Zettel vom Schiffsmodell, aber dann kommen noch ein paar Zeilen. Die sind völlig neu und klingen wie eine Warnung. Hörst du zu, Per?«
»Ja, ja«, knurrte der.
»Ein paar der Buchstaben sind etwas hervorgehoben, siehst du das?«, sagte Anita und zitierte.
Nicht wie das Läuten der heimischen Glocke
B iete ich de r Müh e Söhne Rast und Ruh.
c
Ni c ht wie die des Tempels Frieden.
Segler, hörst du, im Nebel i rrend
Auf Klippen zu, wo droht Gef a hr,
Den Klang meiner Warnung, kehr um!
Kämpfe und wache und bete!
Anita nahm ein Blatt Papier und schrieb die Buchstaben in der Reihenfolge auf, wie sie markiert waren. »Breccia«, wenn man das einsame C hinzunahm, das aussah, als sei es verkehrt gelandet. Ohne das C ergab es »Brecia«.
»Was, wenn es sich nun gar nicht um Vinga handelt. Der Text könnte auch wunderbar zu einem anderen Ort passen.«
»Wieso?«
»Sieh doch das Gedicht, also die Sache mit dem Meer, dem Elternhaus und dem weißen Blinken mal im Zusammenhang mit Karl-Axel Strömmer. Was ergibt es dann? Wo ist Karl-Axel aufgewachsen?«
»Auf Pater Noster. Sein Vater war dort Leuchtturmmeister …,« erwiderte Per zögernd.
»Genau, Elternhaus und weißes Blinken. Das Pater-Noster-Feuer
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