Die Tochter des Magiers 03 - Die Erwählte
für ein Lärm dort vor der Tür?«
Maru schüttelte die Gedanken an Utukku ab. Es war besser, an etwas anderes zu denken. Der Bann schien seit Utukkus letztem Besuch viel stärker geworden zu sein. Wie sollte sie einen Feind bekämpfen, wenn ihr schon der Gedanke daran Schmerzen bereitete? Es war zum Verzweifeln. Sie seufzte. »Hast du es noch nicht gehört?«, erklärte sie. »Der Kaidhan ist tot.«
»Luban? Tot?« Temu erbleichte. »Fahs steh uns bei! Der Kaidhan? Aber wie ist das möglich?«, rief er erschrocken.
Maru entschied, dem Schreiber nicht die volle Wahrheit zu berichten. »Er wurde ermordet, von Immit Schaduks Frau.«
»Umati? Ich dachte, die sei tot! Aber warum hat sie …?«, rief der Schreiber und vollendete die Frage nicht.
»Das kann ich dir nicht sagen, Temu«, antwortete Maru.
»Fahs steh uns bei, das ist ein finsterer Tag für das Reich. Der Kaidhan tot, die Stadt belagert. Was soll bloß werden?«
»Vielleicht ist dieser Tag nicht nur düster, Temu, denn da ist noch etwas.«
Der Schreiber blickte sie verstört an.
»Der Immit hat vor, noch heute Frieden mit Numur zu schlie ßen.«
Temus Mund klappte auf und nicht wieder zu. Maru versuchte, ihm in Kürze zu erklären, was zuletzt in der Stadt vorgefallen war und was am Abend geschehen würde. Je mehr sie erzählte, desto größer wurden die Augen des Schreibers. Schließlich hob er die Hand. »Hör auf, Maru, ich bitte dich. Das ist zu viel für meinen armen Verstand. Das Reich geteilt? Luban tot? Malk Gerru am Sumpffieber erkrankt? Und Frieden? Ich kann das eine so wenig fassen wie das andere. Was für Zeiten, die ich hier erleben muss!« Temu stand auf. »Entschuldige mich, Maru, aber ich muss einen Tempel aufsuchen. Vielleicht vermögen die Hüter meine Verwirrung zu lindern.«
»Natürlich, geh nur«, murmelte Maru verlegen. Sie hatte dem Schreiber Dinge berichtet, die ihn zutiefst erschüttert haben mussten. Es war falsch gewesen, ihm das so lange vorzuenthalten. Und sie hatte ihm nicht die volle Wahrheit erzählen können.
»Willst du nicht mitkommen in den Tempel, Maru?«
»Nein, vielleicht später, Temu. Doch ich fürchte, ich muss zurück. Ich denke, mein Onkel wird mich erwarten.«
»Dein Onkel, der gar nicht dein Onkel ist?«
»Eben jener, Temu. Vielleicht kann ich dir auch bald erzählen, warum das so ist.«
»Ja, erzähle es mir morgen, nur nicht heute. Mein Herz birst vor Trauer und Schrecken – und nun auch vor Hoffnung. Was für ein Tag.«
Sie trennten sich vor der Tür. Die Straße war voller Menschen – Menschen, die weinten, klagten, sich die Kleidung zerrissen. Maru sah dem Schreiber hinterher. Er hatte recht, was für ein Tag! Und er war noch lange nicht zu Ende.
Die Stadt war in Aufruhr. Der Kaidhan war tot, erschlagen vom verfluchten Halbblut Umati, Schaduks dritter Frau, so lief es durch die Straßen. Aber wenn der Kaidhan tot war, wer sprach dann für die Menschen zu den Göttern? Was sollte jetzt aus der Stadt werden? Überall standen Gruppen von Menschen zusammen. Sie sprachen durcheinander oder weinten gemeinsam, ohne Ansehen der Herkunft. Da waren Sklaven ebenso tief erschüttert wie die Frauen der Verwalter, Handwerker ebenso fassungslos wie Priester. Aus reiner Neugier, oder vielleicht auch, weil es sie nicht wirklich nach Hause zog, nahm Maru nicht den kürzesten Weg, sondern folgte der Hauptstraße. Sie war voller Menschen. Durch das kydhische Tor strömten die Bewohner der Weißen Seite in die Oberstadt, die kleinen Verwalter und reicheren Handwerker. Sie kamen mit ihren Frauen, Kindern und auch Dienern und Sklaven. Als Maru am Edhil-Platz angekommen war, sah sie, dass auch von der Schwarzen Seite hunderte und aberhunderte durch das Etellu-Tor drängten. Sie hätte nicht gedacht, dass sie die Gassen der Stadt je so voll sehen würde. Selbst die Fieberkranken strebten in die Tempel, um dem toten Luban ein Opferfeuer zu entzünden. Luban, der Segensreiche, Luban, der gütige Vater der Stadt, Luban, dessen letzter Atemzug dem Frieden gegolten hatte. Denn das war die andere Nachricht, die durch die Gassen schwirrte: Es würde Frieden werden. Luban hatte seinen Stolz überwunden und in der letzten Stunde seines strahlenden Lebens einen Friedensvertrag besiegelt. Was für eine Tat! Was für ein Verhängnis, dass er selbst die Frucht seines erhabenen Handelns nicht mehr ernten konnte. Maru quetschte sich am Rand des Platzes entlang und war froh, als sie in die Straße der Richter einbiegen konnte.
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