Die Tochter des Magiers
Bundesstaaten Amerikas gereist, hatte auf Rummelplätzen und
auf richtigen Bühnen in kleinen Clubs Vorstellungen gegeben. Und
nachdem Max – mit einigem Bedauern – im vorigen
Sommer den Jahrmarkt verkauft hatte, waren sie nach Europa gereist, wo
Max große Erfolge eingeheimst hatte.
Luke hatte etwas Französisch gelernt und beherrschte die
gängigen Kartentricks. Alles in allem hätte sein Leben nicht schöner
sein können.
Zufrieden sank er in den Schlaf – und wachte zu
seiner Bestürzung eine Stunde später schweißgebadet und wimmernd wieder
auf.
Er war wieder einmal dort in dieser vollgestopften
Zweizimmerwohnung gewesen. Ein Gürtel war wie eine Peitsche auf ihn
herabgezischt, und er hatte nirgendwohin flüchten, sich nirgends
verstecken können.
Luke setzte sich auf und atmete in tiefen Zügen die kühle
Herbstluft ein. Den Kopf auf die Knie gestützt, wartete er, daß das
Zittern nachließ. Es war seit Monaten nicht mehr passiert, daß sein
Unterbewußtsein ihm diesen Streich gespielt hatte. Er hatte geglaubt,
er hätte es geschafft. Jedesmal, wenn einige Wochen oder gar Monate
ohne einen dieser gräßlichen Träume vergingen, war er sicher, daß
dieses Kapitel endgültig hinter ihm lag.
Doch dann tauchte plötzlich alles wieder auf, wie ein
grinsendes Gespenst, das über ihn herfiel, um ihn hohnlachend zu quälen.
Entschlossen sprang Luke aus dem Bett und zog seine Hosen an.
Er war kein Kind mehr, sollte eigentlich nicht mehr zitternd aus einem
Alptraum aufwachen und sich wünschen, Lily oder Max seien da, um ihn zu
trösten.
Er wollte eine Runde laufen, um sich wieder zu beruhigen und
diese widerlichen Erinnerungen abzuschütteln.
Als er die Treppe hinunterkam, hörte er grelle Schreie und
gedämpftes Stimmengewirr. Verwundert blickte er ins Wohnzimmer, wo
Roxanne mit gekreuzten Beinen auf dem Boden saß und eine Schüssel
Popcorn im Schoß hielt.
»Was machst du da?«
Sie schrak zusammen, wandte aber nicht den Blick vom
Bildschirm ab. »Ich sehe mir einen Gruselfilm an. Das Schloß
der lebenden Toten. Dieser Graf balsamiert Leute ein.
Klasse.«
»Scheußlich.« Trotzdem setzte er sich neugierig auf die Couch
und langte in Roxannes Popcornschüssel. Er fühlte sich nach wie vor ein
bißchen zittrig, aber noch ehe Christopher Lee seine wohlverdiente
Strafe bekam, war er schon eingeschlafen.
Roxanne wartete, bis sie sicher war, daß er tatsächlich
schlief. Dann streckte sie vorsichtig die Hand aus und streichelte ihm
übers Haar.
»Sie werden so rasch erwachsen, Lily.«
»Ich weiß, Schatz«, seufzte Lily und stieg in die bunte
längliche Kiste. Sie probten allein im Club eine neue Nummer, die Max
›Die zerteilte Dame‹ getauft hatte.
»Roxy ist bald ein Teenager.« Max klappte die Verschlüsse zu.
»Wie lange es wohl noch dauert, bis uns picklige Jünglinge ins Haus
gerannt kommen?«
Lily lächelte und wackelte mit den Händen und Füßen, die aus
den Löchern der Kiste ragten. »Nicht mehr sehr lange. Aber keine Sorge,
Max, sie ist viel zu vernünftig und weiß genau, was sie will.«
»Ich hoffe, du hast recht.«
»Sie ist die Tochter ihres Vaters.« Ihrer Rolle entsprechend
wimmerte und stöhnte Lily herzerweichend, als Max nach einem
juwelenbesetzten Krummsäbel griff.
»Damit meinst du, sie ist dickköpfig, ehrgeizig und
eigensinnig.«
Lily schwieg, während Max sich daranmachte, die Kiste zu
zerschneiden. Nachdem er die Hälften wieder zusammengefügt hatte,
fragte sie: »Du bist nicht traurig, daß die Kinder erwachsen werden,
Liebster, oder?«
»Ein wenig vielleicht. Es erinnert mich daran, daß ich älter
werde. Luke fährt inzwischen Auto und läuft hinter Mädchen her.«
»Hinterherzulaufen braucht er ihnen wahrhaftig nicht. Sie
werfen sich ihm regelrecht an den Hals«, schnaubte Lily empört und
seufzte. »Jedenfalls sind es gute Kinder. Ein prachtvolles Paar.«
Die eine Hälfte dieses prachtvollen Paars
stand zwei Block weiter am Straßenrand und legte mit ihren Kartentricks
gutgläubige Touristen herein, von denen es derzeit in der Stadt nur so
wimmelte. Roxanne hatte der Versuchung einfach nicht widerstehen können.
Sie war ordentlich bekleidet mit rosafarbenen Jeans und Jacke,
einer geblümten Bluse und schneeweißen Turnschuhen. Ihr Haar war zu
einem Pferdeschwanz zurückgebunden und ihr Gesicht so sauber gewaschen,
daß die Sommersprossen leuchteten.
Sie entsprach genau dem Bild eines netten kleinen
Mädchens – was sie auch beabsichtigt hatte. Roxanne
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