Die Tochter des Münzmeisters
Ganz in ihrer Nähe fand ein Gerangel statt, und während Hemma sich bemühte, wieder auf die Füße zu kommen, fiel ihr auf, dass sich anscheinend zwei Pferde vom Schauplatz entfernten, und sie vermutete, dass es auch ihrem nervösen Hengst zu viel geworden war und er das Weite suchte. In völliger Dunkelheit und ohne die Möglichkeit, zu rufen oder ihre Angst herauszuschreien, versuchte sie vom Kampfort wegzurollen. Der Schmerz in ihren Armen war einem Gefühl der Taubheit gewichen, so dass sie kaum spürte, wenn sich ihr Körper über ihre Gliedmaßen hinweg bewegte.
Die Kampfgeräusche kamen näher, und wieder war ein Schrei zu hören, dieses Mal allerdings eindeutig aus Schmerz. Fast unmittelbar danach zuckte sie zusammen, denn jemand machte sich an ihrer Augenbinde zu schaffen, und einen Moment später wurde sie ihr heruntergerissen.
Es war Esiko, der den Knebel entfernen wollte, doch als er ihre angsterfüllten Augen sah, ließ er rasch von ihr ab und sprang gerade noch rechtzeitig zur Seite. Azzos Messer stieß ins Leere, der kräftige Mann verlor kurzfristig das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Wutschnaubend sprang er sofort wieder auf die Füße, um im nächsten Augenblick mit leerem Blick erneut zusammenzusacken. Esiko warf den dicken Ast achtlos zu Boden und war mit drei großen Schritten wieder bei Hemma. Er zerrte an ihrem Knebel, und gleich darauf konnte sie wieder tief durchatmen. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Esiko das Messer ergriffen hatte, das neben Azzo lag, und sich an ihren Händen zu schaffen machte.
Kaum waren ihre Arme wieder frei, spürte sie tausende kleiner Nadelstiche in ihrem bis dahin fast gefühllosen Fleisch. Esiko, der neben ihr kniete, nahm sie tröstend in die Arme, und Hemma ließ ihren Tränen freien Lauf. Allerdings wurde ihr nur ein kurzer Moment gewährt.
»Wir müssen hier weg! Ich weiß nicht, wie lange er bewusstlos bleibt«, drängte Esiko sanft und half Hemma hoch.
Das scheußliche Kribbeln in ihren Armen ebbte langsam ab, und Hemma ließ sich willig mitziehen. Ihr Ziel war ungefähr fünfzig Meter von der Stelle entfernt, an der Azzo noch immer in gekrümmter Haltung seitlich auf dem Waldboden lag. Esikos Stute graste friedlich am Waldrand. Er hoffte inständig, dass sie ihm den scharfen Galopp über die längere Strecke nicht übelgenommen hatte und nicht weglief, denn natürlich hatte er sie vorhin nicht anbinden können, als er aus dem Sattel auf Azzo gesprungen war. Glücklicherweise tat das Tier ihm den Gefallen und ließ die beiden dicht an sich herankommen. Esiko griff nach den Zügeln und half Hemma hinauf. Gerade als er sich hinter ihr auf den Pferderücken schwingen wollte, ertönte ein grauenhaftes Brüllen. Die junge Frau wandte sich erschreckt um und sah mit Entsetzen, dass Azzo wieder auf den Beinen war. Ein dünnes Rinnsal Blut lief ihm über eine Gesichtshälfte, und er hielt eine Waffe in der rechten Hand.
»Schnell, beeil dich, er hat noch ein Messer!«, schrie sie, riss Esiko die Zügel aus der Hand und reichte ihm den rechten Arm. Sie wagte einen letzten gehetzten Blick nach hinten, und voller Grauen sah sie, wie Azzo im Rennen mit dem Messer ausholte. Flugs stieß sie dem Pferd die Fersen in die Flanken, und sie stürmten los.
»Ducken!«, gellte ihr Schrei durch die Landschaft, dann spürte sie ein leichtes Zucken hinter sich, wagte aber nicht sich umzudrehen. Unbarmherzig trieb sie die Stute an, und sie galoppierten den Hang über eine Wiese hinab, die vor einem kleineren Waldstück endete. Hemma musste das Pferd zügeln, denn der schmale Pfad ließ keinen Galopp zu. Endlich wagte sie noch einen Blick über die Schulter und erstarrte. Selbst aus dieser Entfernung konnte sie erkennen, dass Azzo auf ihrem Hengst saß.
»Schnell, den Pfad hinunter bis zum Klusfelsen. Vielleicht können wir uns dort verstecken«, hörte sie Esikos Stimme dicht neben ihrem Ohr.
Auch ihr war unvermittelt die ungefähr zwanzig Meter hohe Felsrippe eingefallen, ein verzauberter Ort, den sie ins Herz geschlossen hatte. Doch was viel entscheidender war: Es gab dort zwei kleine Höhlen. Gleichzeitig wurde ihr klar, dass sie nur diese eine Möglichkeit hatten, denn Berath war um einiges schneller als die ältere Stute, ganz davon abgesehen, dass ihr Pferd zwei Reiter tragen musste, so dass sie es bis Goslar niemals schaffen würden. Dicht an sie geschmiegt spürte sie Esikos Körper, und seine Nähe gab ihr Zuversicht.
»Haltet das Pferd an,
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