Die Tochter des Samurai: Roman (German Edition)
ein Arm oder ein Bein fehlte, und ein alter Mann, der statt einer Nase nur zwei Löcher im Gesicht hatte. Sie alle hatten nicht mit Kitaokas Truppen gehen oder auch nur fliehen können. Doch obwohl sie Bauern und Landbewohner waren, hatten sie keine Angst. Sie entstammten einem Kriegerclan, bereit, es wenn nötig mit jedem Feind aufzunehmen.
Jetzt waren sie alle Waffenbrüder, und niemand verdächtigte Nobu und Taka. Trotzdem hielt er den Mund. Am besten war es, sich dumm zu stellen. Er wollte nicht, dass jemand seinen Aizu-Dialekt heraushörte. Taka war offensichtlich wortgewandt und gut erzogen, und Nobu war, wie er wusste, dreckig und zerzaust. Sein Ärmel stank nach Flusswasser, und seine Uniform beulte sich unter Eijiros zerknittertem Baumwollgewand. Diese Menschen würden vermutlich denken, sie wäre eine Samurai-Herrin und er ihr Diener.
Taka trat vor, verbeugte sich und lächelte. Sie war einen ganzen Kopf größer als die meisten dieser Landbewohner. »Vielen Dank, vielen Dank«, sagte sie. »Ihr habt uns gerettet.«
Ein Junge mit einer altmodischen Stirnlocke verzog grimmig den Mund. »Wir haben ihnen gezeigt, aus welchem Holz die Satsuma geschnitzt sind«, piepste er in breitem Ortsdialekt.
»Zu dumm, dass wir keinen erwischt haben, wir hätten ihn als Geisel nehmen können«, sagte der alte Mann, auf sein Gewehr gelehnt.
»Das wird’s ihnen zeigen«, mümmelte der Mann ohne Nase. »Denken, sie können in unsere Stadt marschieren und gehen, wohin sie wollen.«
»Das stimmt, Großvater«, antwortete ein Stimmenchor.
Männer, Frauen und Kinder sammelten sich begierig um Taka, bestürmten sie mit Fragen. »Kommt ihr aus der Stadt? Was gibt es Neues? Also war es kein Gerücht, die Armee ist wirklich gekommen. Wollt ihr in die Berge?«
»Wir sind auf dem Weg zum Haus der Kitaokas.« Die Menschen blickten sich an und strahlten, verbeugten sich tief, als sie den Namen hörten.
Eine Frau kam humpelnd näher, ihr Rücken so gekrümmt, dass ihr Gesicht fast den Boden berührte. Sie streckte ihre arthritische Hand aus und strich über Takas Ärmel, rieb den Stoff zwischen ihren knotigen alten Fingern und brachte tief aus der Kehle ein anerkennendes Brummen hervor. »Gehörst zur Familie, was?«, krächzte sie.
Taka nickte schüchtern.
»Erst gestern kam eine Dame hier vorbei, stimmt’s nicht?« Andere Frauen mit faltigen, welken Gesichtern drängten sich vor und nickten ernst. Die Vögel hatten sich wieder auf den Bäumen niedergelassen und zwitscherten noch lauter als zuvor.
»Eine Dame?« Nobu hörte das Zögern in Takas Stimme. »Nur eine?«
»Nein, drei. Stattliche Damen, wohl aus Tokyo. Geishas, wenn man mich fragt. Sehen nicht oft Damen, die hier entlangkommen, genauer gesagt, nie.«
Taka schaute zu Nobu, und ihre Blicke trafen sich. Ihre Mutter. Also waren sie auf dem richtigen Weg. Er spürte ihr Widerstreben, nachdem sie jetzt so nahe waren. Sie hatte nicht mit zu Madame Kitaoka gehen wollen, wusste nicht, was sie dort erwartete oder ob man sie überhaupt willkommen heißen würde. Und sie wollte nicht von ihm Abschied nehmen.
Aber er hatte einen Krieg auszufechten. Niemals könnte es eine andere Frau für ihn geben, das stand außer Frage. Sie war alles, was er je gewollt hatte. Doch er hatte auch eine Aufgabe zu erfüllen. Er musste sie sicher abliefern und sich dann auf den Weg machen.
»Wir nehmen euch auf, wenn ihr wollt«, boten die Frauen an.
»Das können wir nicht von euch verlangen. Sagt uns nur, wohin wir gehen müssen.«
»Masa aus dem Bambusdorf, so nennen wir ihn. Er ist ein Bauer, unser Masa, er pflügt gern, gräbt um, verteilt den Dünger. Geht zurück zur Hauptstraße und haltet nach dem zweiten Weg zu eurer Rechten Ausschau. Masas Haus steht nahe der Berge. Allerdings ist da niemand mehr. Na ja, vielleicht noch ein Wächter, den könnt ihr fragen, wohin sie gegangen sind.«
35
»Kitaoka. Bambushaus.« Das Namensschild war so klein, dass sie fast daran vorbeigegangen wären.
Taka war stehen geblieben, um die Schwarzkiefer zu bewundern, deren knorrige Äste sich über die Straße erstreckten, so vollendet geformt, als stammte sie aus einer Tuschzeichnung. Bleiche, knubbelige Kiefernknospen lagen auf dem Boden verstreut. Taka stellte sich auf die Zehenspitzen, zog einen Ast zu sich heran und rieb die spitzen Nadeln zwischen den Fingern. Wann immer sie diesen scharfen, frischen Duft roch, würde sie sich an diesen Tag erinnern, dachte sie.
Sie waren fast in den Bergen
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