Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tochter des Samurai: Roman (German Edition)

Die Tochter des Samurai: Roman (German Edition)

Titel: Die Tochter des Samurai: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lesley Downer
Vom Netzwerk:
oder Geschichten des Makabren , aber vollkommen auf Englisch geschrieben. Gu-rei-tsu Ekku-supeku-tei-shi-onzu lautete der Titel. Las sie die Silben schnell genug, konnte Taka sie so klingen lassen, wie es sich anhörte, wenn ihr Lehrer, ein verschwitzter, rotgesichtiger Barbar namens John-sama, sie aussprach: Great Expectations . In der Geschichte ging es um einen Jungen namens Pip, hatte er ihnen erzählt, und der Titel bedeutete »große Träume«. Das kam ihr wie ein gutes Buch für ihre Weiterbildung vor. Auch sie hegte große Träume – obwohl sie nur ein Mädchen war, und sie wagte nicht mal daran zu denken, ob es je mehr als Träume werden würden.
    Die verhängnisvollen Ereignisse jenes Sommers hatten wenigstens ein Gutes bewirkt. Nachdem Nobu fort war, hatte Fujino nie mehr von Heirat gesprochen, wenngleich Taka nicht wagen konnte, sich völlig zu entspannen. Sie wusste, dass ihre Gnadenfrist nicht ewig währen würde. Ihre Mutter sprach nie von Nobu, und Taka fragte sich manchmal, ob es auch ihr leidtat, wie sie ihn behandelt hatten.
    Sie konzentrierte sich. Ihr Zeichenlehrer hatte seinen Besuch für den heutigen Morgen angekündigt, und von allen Lehrern war er ihr der liebste. Am Nachmittag würden ihre Mutter und sie im Eilschritt durch die Straßen gefahren werden, um eine Tanzvorführung zu besuchen, veranstaltet von einer Geishas-Freundin Fujinos.
    Leise summend tauchte sie den Pinsel in die Vertiefung des Reibsteins, streifte die überschüssige Tusche ab und senkte den Pinsel mit fester Hand. Sie drückte ihn hinunter und hob ihn dann an, sodass er über das Papier tanzte, machte den ersten Strich kräftig, dann leicht, setzte sich zurück auf die Fersen, überprüfte, wie die Tusche einsickerte und sich an den Rändern des Strichs auflöste. Das war der hundertste Bambus, den sie an diesem Tag gemalt hatte, und der erste, der sie zufriedenstellte.
    Schritte glitten über die Tatamimatten auf sie zu. Erschreckt sah sie auf, als Fujino herausrauschte, sich auf einem Kissen niederließ und die Kimonoröcke unter ihren Knien glättete wie eine Glucke ihr Gefieder. Zu Hause, vor allem bei dieser Hitze, trug selbst sie japanische Gewänder statt dieser sperrigen westlichen Röcke, die sie normalerweise bevorzugte.
    Taka schürzte die Lippen. Für gewöhnlich kam ihre Mutter nicht so früh am Tag zu ihr. Ihre Augen funkelten, und sie hatte ihren Mund zu einem festen kleinen Knoten zusammengezogen, als platzte sie vor Neuigkeiten, wäre sich aber nicht sicher, wie diese aufgenommen würden.
    Taka spülte den Pinsel aus und trocknete ihn mit einem Tuch. »Ich bin gerade fertig, Mutter.«
    Fujino nahm ihren Fächer heraus und schlug ihn auf. Ihre rundlichen Wangen waren schweißbedeckt. »So unfreundlich von deinem Vater, fortzugehen und mir das alles allein zu überlassen«, seufzte sie. »Das ist eine schwere Bürde.«
    Ihre Zähne waren schockierend weiß. Vor ein paar Monaten hatte sie aufgehört, sie zu schwärzen, und jetzt, statt diskret versteckt zu sein wie bei allen anderen Müttern, schimmerten ihre Zähne perlweiß, wie die eines jungfräulichen Mädchens oder eines Mannes. Man konnte sich nur schwer an ihr neues Gesicht gewöhnen. Taka ermahnte sich, sie nicht anzustarren.
    Sie wusste, dass ihre Mutter eine wichtige Rolle in der Gesellschaft Tokyos spielte. Zugegeben, sie wurde nicht mehr zu vielen formellen Festen eingeladen, seit Takas Vater fort war, aber nach wie vor erinnerten sich alle an ihn und verehrten ihn. Die Menschen verneigten sich tief, wenn sie in ihrer Rikscha oder Kutsche vorbeifuhr, und es gefiel Fujino, den äußeren Schein aufrechtzuerhalten.
    Die Kaiserin hatte vor einiger Zeit verkündet, sie werde fürderhin ihre Zähne nicht mehr schwärzen. So schwer es auch zu glauben war, ausländische Frauen benutzten anscheinend keine schwarze Zahnpolitur. Taka erinnerte sich, wie sie bei der bloßen Vorstellung ungeschwärzter Zähne hilflos gekichert hatte. Gleichwohl war es unerlässlich, dass die Angehörigen der japanischen Oberschicht dem zu folgen hatten, wenn das Land je wirklich zivilisiert und aufgeklärt werden wollte. Die Damen des Hofes waren rasch dem Beispiel gefolgt. Als Geisha und Angehörige der Tokyoter Gesellschaft hatte Fujino bei Modeströmungen einfach auf dem Laufenden zu sein.
    Trotzdem wünschte sich Taka manchmal, ihre Mutter wäre nicht so fortschrittlich. Fujino hatte sogar aufgehört, sich die Augenbrauen zu rasieren, die jetzt buschig und schwarz wie

Weitere Kostenlose Bücher