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Die Tochter des Schmieds

Die Tochter des Schmieds

Titel: Die Tochter des Schmieds Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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Beruhig dich, sagt Zeliha. Er war es nicht wert.
    – Aber er war mein Mann.
    Gül faltet ihre Hände im Schoß und senkt den Blick auf ihre Finger. Der erste Tropfen fällt auf ihren rechten Daumennagel.
    Sie weiß nicht, was an den Gerüchten dran ist, sie weiß nicht, warum Tante Hülya und Onkel Yücel sich getrennt haben, sie
     weiß nicht, was für Fehler er hatte, aber sie sieht ihn vor sich, Sibel auf seinen Füßen, sie sieht ihn vor sich, wie er mit
     Melike gespielt hat, wie er sich unermüdlich um seine Nichten gekümmert hat, und Gül kann sich nicht erinnern, ihn ungeduldig
     oder gar gereizt erlebt zu haben. Sie hat dieses freundliche Gesicht vor Augen, sie weiß noch, wie sein Schnurrbart sich angefühlt
     hat, und sie weiß noch, wie er |252| gerochen hat. Nach Eau de Cologne und nach etwas, das vielleicht Rasierschaumreste waren.
    Nein, sie weiß nicht, was für Fehler er hatte, aber wenn er vor seinen Schöpfer tritt, dann wird dieser sicher berücksichtigen,
     wie er sich um die drei Schwestern gekümmert hat.
    Herr, laß ihn in Frieden ruhen, betet Gül, und sie wird dieses Gebet später noch einige Male in ihrem Bett in der Dunkelheit
     ihres Zimmers wiederholen. Sie wird trauern um einen Mann, den sie kaum gekannt hat, sie wird tagelang an ihn denken, und
     als er langsam aus ihren Gedanken verschwindet, wird ihr Bauch ein wenig gewachsen sein.
     
    Gül steht morgens auf, macht Frühstück, manchmal spült sie, manchmal jemand anders, sie macht die Hausarbeit, strickt, geht
     ins Kino. Sie schreibt Briefe an Fuat, und sie liest Bücher mit religiösen Texten, sie legt Holz nach, räumt ihr Zimmer auf
     und häkelt Spitzendeckchen, sie ißt und schläft, von Zeit zu Zeit streitet sie sich mit ihrer Schwiegermutter. Manchmal, wenn
     sie abends im Bett liegt, wundert sie sich, wie kurz der Tag war, und manchmal scheinen die Tage kein Ende zu nehmen. Sie
     spielt mit ihren Neffen und Nichten, aber es ist nicht das gleiche, wie mit ihren Geschwistern zu spielen oder mit Candan.
     Sie sitzt mit Suzan zusammen, die nun schon seit Monaten keine Nachricht von ihrem Mann hat. Gül lacht und weint und gähnt
     und wacht nachts auf, wenn sie Hunger hat oder ihr Baby strampelt.
    Der Winter geht, der Frühling kommt, Gül fühlt sich leichter, lebendiger, das Licht scheint in ihre Knochen zu dringen und
     nimmt ihnen das Gewicht. Das Grün schenkt ihren Augen Entzücken, mit jeder neuen Knospe scheint ihr Bauch runder zu werden,
     alles blüht und gedeiht, der ganze Frühling fühlt sich an wie ein Fruchtbarkeitsritual, wie ein antikes Fest, das man zu Ehren
     der Götter gefeiert hat, in einer Tanzhalle mit riesigen Säulen, wo die Sorgen keinen Platz hatten und jeder seine Wünsche
     vergessen hat.
    Mit dem Sommer kommt auch Melike, und am zweiten |253| Abend läßt sich der Schmied all die Briefe, die sie geschrieben hat, von ihr selbst vorlesen. Oft geht Melike Gül besuchen,
     jetzt, nachdem sie so lange getrennt waren, kommen sie gut miteinander zurecht. Melike liebt es, ihr Ohr auf Güls Bauch zu
     legen und zu lauschen.
    Melike spielt wieder mit dem kostbaren Ball aus der Truhe ihrer Mutter. Sie kann das Vorhängeschloß nicht öffnen, doch sie
     schraubt einfach die Scharniere auf der anderen Seite der Truhe ab, nimmt sich den Ball heraus, und wenn sie den Ball in die
     Truhe zurückgelegt hat, schraubt sie die Scharniere wieder an.
    Sie spielt mit Sibel oder trifft sich mit Sezen, die auf eine Oberschule in der Stadt geht. Ihre Eltern haben Geld, sie muß
     kein staatliches Internat besuchen. Ganz stolz erzählt ihr Melike, daß sie nun in ihrer Schulmannschaft Volleyball spielt
     und mit ihrem Team an den Schulmeisterschaften teilnehmen und gewinnen wird.
    Sie tritt sehr selbstsicher auf, sie weiß, was sie will, und sie hat auch immer den Mut, das laut zu sagen. Sibel findet,
     daß Melike in dem Jahr, das sie weg war, erwachsener geworden ist, erwachsener noch als Gül. Und sie weiß, daß sie selbst
     nie so mutig sein wird, allen ihren Wünschen zu folgen. Sie hat jetzt schon Angst davor, auf dasselbe Internat wie Melike
     zu gehen. Auch wenn sie dort nicht allein wäre, Sibel möchte nicht so weit weg von zu Hause sein, sie möchte bei ihren Eltern
     und bei Gül bleiben, hier in dieser Stadt. Doch sie hört fasziniert zu, als Melike von dem Schulausflug an die See erzählt.
     Das Blau des Meeres hat sich mit dem Blau des Himmels vermischt, das Wasser war salzig, aber nicht so salzig wie das

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