Die Tochter des Schmieds
|256| kleine Brotzeit im Schatten der Bäume, und abends sind ihre Augen rot vor Müdigkeit, ihre Arme schwach, und auf den Fingerspitzen
fühlen sie immer noch die glatte Haut der Äpfel.
Gül bleibt zu Hause, stillt Ceyda, kümmert sich um den Haushalt, kocht, damit ihr Mann, ihre Schwager und Schwägerinnen und
Schwiegereltern nach der Arbeit etwas zu essen haben.
Als eines Abends alle vom Apfelgarten heimkommen, legt Gül das Buch weg, in dem sie gerade gelesen hat, und geht, um den Topf
auf den gedeckten Tisch zu stellen. Ihr Schwager Levent sagt:
– Du solltest auch bei der Ernte helfen, anstatt dich hier um dein Vergnügen zu kümmern. Wir rackern uns den ganzen Tag ab,
und du genießt den Lohn unserer Mühe. Bist du nur ein Gast in diesem Haus, oder was?
Vielleicht ist er genervt wegen etwas anderem, vielleicht ist er so erschöpft, daß er nicht mehr weiß, was er sagt, aber Gül
hält die Luft an. Sie hört auf zu atmen und weiß, daß sie kein einziges Wort wird entgegnen können.
– Genug, sei still, wird Levent von seinem Vater zurechtgewiesen, als er noch mal ansetzen will, um etwas hinzuzufügen. Glaub
nicht, du seist etwas Besonderes, nur weil du heute so viel gearbeitet hast. Gül trägt ihren Teil bei, und du weißt das.
Gül ist froh, daß ihr Schwiegervater etwas sagt. Aber sie ist nicht befriedigt. Herr, mach, daß ich ihm die Antwort nicht
schuldig bleibe.
Jeder trägt in diesem Haus sein Scherflein bei, und Levent kann jederzeit mit seiner Frau ins Kino gehen, ohne sich fragen
zu müssen, wer auf die Kinder aufpaßt. Es ist immer jemand da, jeder hilft jedem, und nun blafft ihr Schwager sie grundlos
so an.
Melike fährt wieder ins Internat, aber ohne Sibel, die nicht begierig darauf ist, das Meer zu sehen. Nach einigen Versuchen |257| hat sie es malen können, ohne es zu kennen. Sie muß nicht wissen, wie die großen Geschäfte aussehen, und was soll man mit
drei Kinos nebeneinander, wenn man doch nur in eins gehen kann. Aber sie will auch auf die Oberschule, auf ein Internat, damit
zu Hause noch ein Magen weniger zu füllen ist. Dabei ißt sie noch immer kaum etwas. Nicht nur in ihrer Klasse, wo sie die
Jüngste ist, sondern auch unter ihren Altersgenossen fällt auf, wie klein und schmächtig Sibel ist.
Sie möchte Lehrerin werden, Lehrer werden gebraucht, und nach drei Jahren auf der Oberschule ist man schon ausgebildete Grundschullehrerin
und kann sein eigenes Geld verdienen. Und Kunst unterrichten.
Möglicherweise will Sibel auch deshalb auf ein Internat, weil sie weiß, daß ihre Mutter genau das von ihr erwartet, weil sie
das Gefühl hat, daß ihre Mutter sich darauf freut, mehr Platz im Haus zu haben. Sie nimmt an den Aufnahmeprüfungen für den
Internatsteil der staatlichen Oberschule ihrer Stadt teil und besteht mit Leichtigkeit. Ab Herbst ist sie wochentags im Internat,
und am Wochenende geht sie zwanzig Minuten zu Fuß heim. Melike schreibt Briefe, Sibel verbringt die Wochenenden zu Hause,
aber Gül ist nun diejenige, die am meisten darüber Bescheid weiß, was zu Hause passiert, weil sie ihren Vater fast jeden Tag
sieht. Von den drei Schwestern ist sie ihrer Familie am nächsten, obwohl sie gedacht hatte, mit der Heirat würde sie sich
am weitesten entfernen.
Gül schläft mit Ceyda im Wohnzimmer, weil es dort am wärmsten ist, auf einer Matratze, das Bett ist schon längst bei einem
anderen frisch vermählten Paar. Doch es wird nur noch vier Hochzeitsnächte erleben, bevor es schließlich zusammenbricht und
Anlaß gibt zu hinter vorgehaltener Hand gemachten obszönen Bemerkungen über das Brautpaar. So endet die Geschichte des Bettes.
Es beginnt mit Liebe, Handwerk, Schweiß und Sorgfalt und Geschick und Talent und Kraft, und schließlich bleiben nur billige
Witze.
|258| Es hätte sicher noch zwei, drei Jahrzehnte gehalten, wenn es nicht alle paar Monate auf einem Pferdewagen festgezurrt worden
wäre, an Türrahmen gestoßen, vom Pickuptruck gefallen und wenn es getragen statt geschoben worden wäre. So endet die Geschichte
des Bettes, abgesehen davon, daß sie nicht endet, weil das Bett heute noch immer geehrt wird mit den Worten derer, die sich
daran erinnern.
Morgens ist Gül dafür verantwortlich, den Holzofen, der nachts ausgeht, wieder anzufachen. An einem Sonntag sind ihr Schwiegervater
und ihre Schwager über das Wochenende in der Nachbarstadt. Es ist ein milder Morgen Ende Dezember, und erst beim
Weitere Kostenlose Bücher