Die Tochter des Schmieds
Jahren. Nun haben sie
mittlerweile fast alle ein Moped, außer Fuat, aber ein Auto besitzt noch immer keiner. Ihr Guthaben ist nicht gewachsen, dafür
aber ihre Träume, sie erzählen sich von den Häusern, die sie mal besitzen wollen, und sie stellen sich vor, wie es wäre, genug
Geld zu haben, um es sich mal eine Woche in Istanbul gutgehen zu lassen, ins Stadion zu gehen, in die schicken Lokale, und
wenn die Augen die Begierde entfachen, auch in die Freudenhäuser.
Gül scheint alles leichter von der Hand zu gehen, wenn sie weiß, daß ihr Mann am frühen Abend heimkommen wird. Wenn sie dann
auf ihrem Zimmer sind und die Kleine tief schläft, redet sie im Flüsterton mit ihm, sie erzählt ihm ihre Versionen der Geschichten,
die er schon gehört hat, sie läßt ihn wissen, wie sie sich gefühlt hat, und sie berichtet ihm auch den neuesten Klatsch aus
der Nachbarschaft. Und Fuat hört bei jedem Thema auf die gleiche bedächtige Art zu, nickt oder schüttelt den Kopf oder gibt
seinem Erstaunen Ausdruck, indem er
kaum faßbar
sagt. Das wiederholt er oft, er hat es sich angewöhnt und wird es jahrzehntelang beibehalten. Kaum faßbar, was die für diesen
Laden haben wollen, kaum faßbar, wie der Schimmel dort die Wände hochkriecht, kaum faßbar, daß meine Mutter dich nicht gehört
hat, kaum faßbar, daß der Winter zu Ende geht, kaum faßbar, daß das unser Kind ist, und für Gül ist es kaum faßbar, daß er
jetzt noch mehr trinkt als früher. Er trinkt nun fast jeden Abend, und ein-, zweimal die Woche ist er volltrunken. Dann wird
Fuat laut, obwohl die Kleine schläft, oder er fängt an zu singen. Beim Militär konnte er nicht oft trinken, doch da hatte
er es auch nicht nötig, da mußte man sich nicht ständig um etwas kümmern, |264| da mußte er sich keine Gedanken darüber machen, wie er Geld mit nach Hause bringen konnte, da mußte er nicht mit Ladenbesitzern
verhandeln, die unverschämte Mieten verlangten. Da konnte er noch träumen, und die Autos schienen noch in Reichweite, da konnte
er noch glauben, alles würde sich von selbst fügen, wenn er erst mal wieder zu Hause wäre.
Trotzdem ist es die ersten Wochen sehr schön. Das Rückgrat der Kälte ist gebrochen, sagen die Leute, Gül freut sich auf den
ersten Frühling, den sie gemeinsam mit ihrem Mann und ihrer Tochter verbringen wird. Auch sie glaubt, daß sich jetzt alles
von allein fügen wird.
Anfang März eröffnet Fuat seinen Laden, und mit dieser Eröffnung kommt ein Frühling, den Gül sich anders vorgestellt hat.
Glaube nicht an diesen Frühling, singt eine Frau in diesem Jahr oft im Radio, es ist ein beliebtes Lied. Glaub nicht an diesen
Frühling, er ist falsch, ihm wird ein Winter folgen, glaub nicht an die Sonne, sie geht nicht wirklich auf, sie will nur hinterlassen
eine Dunkelheit, die uns alle verschluckt.
Dieses Jahr scheinen die Sonnenstrahlen Güls Laune nicht heben zu können, vielleicht auch, weil sie kaum Zeit hat, sie wahrzunehmen.
Es gibt viel zu tun, Ceyda fordert Aufmerksamkeit, ein Teil des Haushalts lastet auf ihren Schultern, und nun bringt Fuat
auch noch jeden zweiten Tag Handtücher aus dem Laden mit, die gewaschen werden müssen. Flauschige Handtücher, fadenscheinige,
weiße, braune, blaue, gelbe, fleckige, große und kleine, die Fuat mit heißem Wasser übergießt und seinen Kunden auf das Gesicht
legt, damit ihre Bartstoppeln weich werden.
Ein etwa dreißigjähriger Mann, dessen Statur an Timur erinnert, der aber einen guten Kopf kleiner ist, kommt jeden Morgen
in einem dreiteiligen Anzug in den Laden und läßt sich rasieren. Seine Stoppeln wären so hart, daß sie die Kragen seiner Hemden
durchscheuern würden, erzählt er. Und weil er keine Lust hat, sich jeden Tag zu rasieren, und weil es billiger ist, sich jeden
Morgen vor der Arbeit rasieren zu lassen, |265| als sich dauernd neue Hemden zu kaufen, kommt er zu Fuat. Täglich ist er der erste Kunde und läßt auch ein reichliches Trinkgeld
da, bevor er zu seiner Arbeit bei der Stadtverwaltung geht. Er scheint einen hohen Posten zu bekleiden, neidvoll blickt Fuat
immer auf seine goldene Uhr.
Mit diesem Mann, Bülent Bey, beginnen Fuats Tage von nun an, und sie gehen weiter mit Stammkundschaft, Laufkundschaft, leeren
Stunden, in denen er selber im Frisierstuhl sitzt, Zeitung liest und raucht oder gleich dem Krämer nebenan Bescheid gibt,
daß er im Teehaus zu finden sei, falls Kunden kommen sollten. Das
Weitere Kostenlose Bücher