Die Tochter des Schmieds
sie wach von dem Geruch
des Eau de Cologne, und ihre ersten Worte sind:
– Gott sei Dank.
Sie kann vom Boden aus ihre Tochter sehen, die friedlich auf einem Kissen schläft.
– Da hast du aber Glück gehabt, sagt Berrin. Da hat es der Allmächtige gut mit dir gemeint. Du hättest auch reinfallen können.
Sie gibt Gül einen Kuß auf die Stirn.
– Ich bin reingefallen.
– Herr im Himmel.
|261| – Ja, da hat sich dieses Loch unter mir aufgetan, und ich bin reingefallen.
Am liebsten würde sie jetzt weinen, aber sie hält die Tränen zurück.
– Wie konnte das passieren?
– Ich weiß es nicht.
– Ich lasse deinen Vater holen.
Gül nickt.
Ihre Schwiegermutter redet hastig, ihre Gesten sind fahrig, sie weiß nicht, was sie tun soll. Was sollte es jetzt noch für
einen Sinn haben, Timur kommen zu lassen.
Gül fragt nicht. Und sie wird auch später nicht fragen. Sie fragt nicht, ob ihre Schwiegermutter sie denn nicht gehört hat.
Abends erfahren sie aus dem Radio, daß Kennedy erschossen worden ist.
Einigen der Älteren fallen die vergessen geglaubten Gerüchte wieder ein. Unter dem Haus soll ein Schatz vergraben sein, ein
Schatz aus der Zeit, in der Timurs Vater noch ein Kind war, ein Schatz aus der Zeit, in der Faruks Großvater dieses Haus kaufte.
Goldmünzen, jede Menge Silber, kunstvoll gearbeiteter Schmuck aus Zeiten des Osmanischen Reiches, Jade, Smaragde, jeder, der
einen Mund hat, fühlt sich berufen, etwas zu vermuten. Und jetzt, da jeder weiß, daß das Haus ein Geheimnis birgt, weiß auch
jeder von der Schatzkiste, einer Truhe, die eine Großfamilie bis ans Ende ihrer Tage ernähren würde.
Viele Jahre später, nachdem Güls Schwiegereltern schon längst gestorben sind und das Haus verkauft worden ist, werden die
neuen Besitzer bei der Unterkellerung auf eine Kiste mit Silberschmuck stoßen, für den der Juwelier ihnen gerade genug Geld
geben wird, um zu zweit für einen Monat nach Amerika zu fliegen.
Doch im Moment ist vor allem der sagenhafte Brunnen im Gespräch, in den Gül beinahe gefallen wäre. Einige Neunmalkluge behaupten,
schon immer gewußt zu haben, daß |262| seinerzeit der Brunnen mit einer Eisenplatte abgedeckt worden war, und natürlich haben diese Neunmalklugen nicht nur von dem
Brunnen gewußt, sondern auch geahnt, daß die Platte unter der feuchten, festgestampften Erde mal durchrosten würde und den
Weg freigeben in einen Tod auf dem Grund eines ausgetrockneten Brunnens, den niemand zuschütten wollte, weil er so tief war.
Levent und Orhan binden eine Münze an einen Faden, die erst den Boden berührt, als die Rolle Nähgarn schon zu einem Drittel
abgespult ist. Es dauert zwei Tage, bis sie den Brunnen mit Sand zugeschüttet haben.
Fuat wird bald vom Militär zurück sein, Ceyda ist gesund, Timur kommt seine Tochter fast jeden Morgen besuchen, und Gül weiß
nun, daß eines Tages der Todesengel wiederkommen wird, dieses Mal, um sie mitzunehmen. Bitte nicht, bevor meine Schwestern
verheiratet sind, betet sie. Bitte nicht, Herr, fleht sie, bitte nicht, bevor meine Schwestern ein eigenes Heim haben, und
bitte nicht, bevor meine Tochter groß genug ist, allein ihren Weg zu gehen. Herr, schenke mir genug Zeit, damit ich für diese
Menschen dasein kann.
– So langsam reicht es mir, sagt Berrin acht Wochen später zu Gül.
– Bitte? fragt Gül unschuldig.
– Gut, du bist in den Brunnen gefallen, und ich habe deine Rufe nicht gehört. Aber seitdem tust du fast nichts von dem, was
ich dir sage. Du verstehst alles absichtlich falsch, oder? Wenn ich sage, schäl die Äpfel, machst du gleich Mus aus ihnen,
wenn ich sage, tu noch ein wenig Pfeffer ans Essen, machst du es so scharf, daß es niemand mehr essen mag, lasse ich dich
waschen, scheuerst du die Hosen am Waschbrett durch. Ich schicke dich schon nicht mehr Holz holen, weil du dann in den Wald
gehen würdest, statt in den Keller. Glaubst du, ich merke das nicht? Bis jetzt habe ich dich geschont, Gül, aber das geht
so nicht weiter.
Gül merkt, wie sie rot wird. Sie findet es selber nicht richtig, aber sie hat es genossen, sie hat es ausgenutzt und genossen, |263| daß ihre Schwiegermutter offensichtlich ein schlechtes Gewissen hatte.
Fuat hat ein wenig Geld gespart und ist auf der Suche nach einem Ladenlokal, wo er sich als Friseur selbständig machen kann.
Er sitzt viel mit seinen alten Freunden zusammen und unterhält sie mit Anekdoten aus den letzten zwei
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