Die Tochter des Schmieds
Vater geantwortet, ich habe schon gesucht.
– Zeig mir die Stelle, hat Gül wiederholt, und sie sind zusammen zum Bach gegangen.
Nun steht Gül im Wasser, die Kälte kriecht ihr die Beine |83| hoch, und langsam schwindet auch das Gefühl aus ihren Fingern. Timur ist in die Hocke gegangen, starrt auf den Boden und murmelt
vor sich hin.
– Sogar ihre Enkelin … wahrscheinlich hat sie ihn verkauft … kaufen, verkaufen, kaufen, verkaufen … das bißchen Traubensaft
…
– Bist du dir sicher, daß es hier war?
– Ja. Oder noch ein kleines Stückchen weiter unten, aber nicht viel, kommen die Worte leiernd aus seinem Mund hervor.
Gül ertastet die Uhr, sie ist unter einen Stein gerutscht. Bevor sie sie herausholt, dreht sie sich um zu ihrem Vater und
sagt:
– Guck mal.
Timur blickt auf, und Gül hebt die Hand aus dem Wasser, hält die Uhr nach oben. Das Lächeln auf dem Gesicht des Schmieds ist
das Lächeln eines Kindes. Er freut sich, als hätte er ein verlorenes Spielzeug wiedergefunden.
– Bravo, meine Kleine, bravo, mein Schatz.
Timur erhebt sich, geht einen Schritt Richtung Bach, hält kurz inne und fällt dann der Länge nach ins Wasser. Sehr schnell
hat er sich wieder aufgerappelt, während Gül weiter mit der Uhr in der Hand im Bach steht und ungläubig zusieht.
– Ich bin nicht gefallen, sagt Timur, immer noch lächelnd, ich habe mich fallen lassen, und er nimmt Gül auf seinen Arm. Sie
spürt augenblicklich, wie die Nässe seines Anzugs durch ihre Kleider dringt, aber es fühlt sich gut an. Es fühlt sich gut
an, die Uhr gefunden zu haben und von ihrem Vater, der ein wenig schwankt, nach Hause getragen zu werden.
Als es noch kälter wird, geht Gül in den Mittagspausen oftmals nicht mehr heim. Die Schmiede ihres Vaters ist näher, dort
ist es warm, und es gibt auch zu essen. Manchmal kocht Timurs Gehilfe etwas, doch viel öfter geht er in dem nahegelegenen
Restaurant etwas holen, und dann sitzen sie zu dritt auf einer dicken Decke auf dem Boden, packen die |84| Hackfleischspieße aus dem Zeitungspapier, die Zitronen und Tomaten, einen dicken Bund Petersilie, und manchmal kommt genau
in diesem Moment Melike reingestürmt, als hätte sie von einem Versteck aus zugesehen und gewartet, bis es Essen gibt.
Sobald sie satt ist, verschwindet Melike wieder, und Gül betätigt den Blasebalg, wofür ihr Vater ihr manchmal ein paar Kuruş
gibt. Nachdem der erste Schnee gefallen ist, verbringt auch Melike ihre Mittagspausen in der Schmiede, müht sich sogar mit
dem Blasebalg, um ebenfalls einige Kuruş zu bekommen, mit denen sie sofort beim Krämer Süßigkeiten oder Knabberzeug kauft.
Weil Gül ihr Geld in einem Versteck aufbewahrt, anstatt es auszugeben, wird sie oft von Melike angebettelt:
– Kauf mir doch noch ein paar geröstete Kichererbsen, bitte.
– Nein, sagt Gül dann.
Sie sagt immer zuerst nein. Aber Melike weiß, daß sie ja sagen wird, wenn sie nur lange genug keine Ruhe gibt.
Die Mittagspausen sind oft die einzige Zeit des Tages, in der Gül richtig warm wird. In der Schule ist es kühl, es wird nur
sparsam geheizt, weil keiner weiß, wie hart und lang der Winter werden wird.
Timur gilt immer noch als wohlhabend, doch nachdem er sich das Haus in der Stadt gekauft hat und die Apfelernte dieses Jahr
nicht gut ausgefallen ist, er einen Teil seines Geldes in Istanbul verjubelt hat und der Handel mit den Bauern auch nicht
mehr so läuft wie früher, muß auch er ein wenig sparen. Tufan hat die Leute aus seinem Dorf jetzt fast alle auf seiner Seite,
sie glauben, der Schmied hätte sich einige Felder und noch zwei Weinberge gekauft mit dem Geld, um das er sie betrogen hat,
sie glauben den Worten seines Konkurrenten und nicht Timurs guten Preisen.
Weil sie sparen müssen, wird nur das große Wohnzimmer geheizt, in dem nachts Arzu, Timur und Sibel schlafen. Die Tür zu dem
kleinen Zimmer wird erst kurz vor dem Schlafengehen |85| geöffnet, damit die warme Luft dort hineinströmen kann, und bald darauf kriechen Melike und Gül unter die dicken Decken.
Bevor es so kalt wurde, konnte Gül spätestens beim Aufwachen am Geruch erkennen, ob Melike ins Bett gemacht hatte. Das kann
sie jetzt nicht mehr. Und sie kann auch oft genug nicht einfach ein Glas Wasser trinken, wenn sie nachts aufwacht. Sie haben
eine kleine Schüssel im Zimmer, aus der sie sich nachts Wasser eingießen können, aber in vielen Nächten wird es so kalt, daß
Gül erst mal die
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