Die Tochter des Schmieds
die Welt kaum länger als fünf Tage währt und nichts wichtiger ist, als Gefährten
zu haben, die einen nach dem Tod noch fortleben lassen. Davon, daß sie nicht wissen, warum sie hierhergekommen sind, daß sie
ihre Sorgen nicht in Worte fassen können, nicht mal in Lieder. Sie lauschen den Sängerinnen, die nicht vergessen wollen, daß
man in die Zukunft lächeln |90| kann, daß es Hoffnung gibt, immer. Auch wenn man das Schicksal annehmen muß, weil einem nichts anderes übrigbleibt, auch wenn
es scheint, als würde die Trauer einen nie mehr verlassen. Wenn man nach vorn sieht, ist da Licht, dort muß es Licht geben,
das kann nicht nur das eigene Herz sein, das sich irgendwo spiegelt.
Timur mag diese Musik, und Gül gefällt sie auch. Ohne die Texte zu verstehen, begreift sie, daß diese Melancholie, der anatolische
Blues, etwas mit dem Tod zu tun hat. Mit dem Leid, der Vergeblichkeit und damit, daß man sich trotzdem mühen muß, daß man
lieben kann, beschützen und wachsen.
Und Timur genießt die Fußballübertragungen, endlich kann er die Spiele verfolgen und ist nicht mehr auf die Erzählungen von
Menschen angewiesen, die lateinische Buchstaben lesen und schreiben können, während er zur Schule gegangen ist, als noch die
arabische Schrift gelehrt wurde. Er muß sich nicht mehr im Teehaus von Leuten, die es auch nur von jemand anderem gehört haben,
erzählen lassen, wer denn nun das entscheidende Kopfballtor gemacht hat.
Arzus Bauch wird immer dicker, und eines Tages sagt sie zu Gül, daß jetzt sie die Wäsche waschen muß. Wie in allen Haushalten,
gibt es beim Schmied alte viereckige Blechdosen, in denen vorher Schafskäse war oder Olivenöl, Dosen zu fünf oder zehn oder
fünfzehn Liter, in die man einen Holzgriff zum Tragen hineingenagelt hat, nachdem der Deckel abgeschnitten wurde. Gül pumpt
aus dem Brunnen Wasser in mehrere kleine Blechkanister und schüttet sie in das große Kupferbecken. Dann bringt sie noch einen
Kanister Wasser zum Kochen, gießt es hinzu, hockt sich auf den niedrigen Holzschemel, während ihre Mutter neben ihr die Wäsche
auftürmt. Als Gül diesen Berg sieht, hat sie das Gefühl, sie könnte das alles nie schaffen, die Tränen treten ihr in die Augen,
doch sie sagt keinen Ton und weint auch nicht.
Am nächsten Waschtag weiß sie schon, daß man sich nicht schrecken lassen darf. Sie singt ganz leise und falsch die Lieder, |91| die sie aus dem Radio kennt, vor sich hin. Es wird vorübergehen, wie alles im Leben, und am Ende wird die Wäsche sauber sein,
und Gül wird wieder nicht genug Kraft haben, das Wasser aus dem Kupferbecken zu kippen, so daß ihr Vater es abends leeren
muß.
Auch nachdem Ende Mai ihre Schwester Nalan geboren wird, läßt Arzu Gül noch oft die Wäsche waschen. Sie hilft ihrer Tochter,
das Becken auszukippen, und hängt die Wäsche auf, wie sie es auch getan hat, als sie hochschwanger war. Gül kommt nicht an
die Leine, und den alten Holzstuhl kann sie noch immer nicht tragen.
Als die Schule wieder anfängt, wohnen sie noch im Sommerhaus. Frühmorgens versammeln sich die Kinder aus der Nachbarschaft
und gehen gemeinsam zu Fuß in die Stadt. Das dauert über eine halbe Stunde, weil sie unterwegs trödeln, Äpfel klauen, spielen,
Unsinn machen. Doch Gül gehört nicht zu denen, die zu spät kommen. Sie geht jetzt gern in die Schule, sie mag ihre neuen Klassenkameraden,
sie mag die neue Lehrerin, eine alleinstehende füllige Frau, die alle schätzen und die fast nie jemanden schlägt, sondern
es mit beeindruckender Geduld mit Worten versucht.
Gül geht gern in die Schule, doch morgens verläßt sie immer schweren Herzens das Haus. Sibel, die noch keine fünf Jahre alt
ist, weint jeden Morgen den Kindern hinterher, die einen Sommer lang ihre Spielgefährten waren und sie nun allein lassen,
wenn sie zur Schule gehen. Sibel weiß nicht, was eine Schule ist und was die anderen dort machen, aber sie will nicht ausgeschlossen
werden. Sie ist ein blasses, dünnes Kind, das oft krank wird. Aber wenn sie morgens anfängt zu weinen, wenn sie trampelt und
schreit und vor Wut rot anläuft, scheinen ganz neue Kräfte in ihr wach zu werden.
Es ist Abdurahman, der eines Sonntags zu Timur geht und sagt:
– Möchtest du Sibel nicht doch dieses Jahr in die Schule schicken?
|92| – Sie ist noch so klein, sie hat noch zwei Jahre.
– Seit sechs Wochen weint sie jeden Morgen, seit sechs Wochen. Wie kannst
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