Die Tochter des Schmieds
würden einen Lügner daran erkennen, daß er rot wird. Aber ihr ist doch nur heiß.
– Ich habe nichts genommen.
Arzu schaut auf und sieht ihre Tochter fest an.
– Özlem hat es bezeugt, sagt Zeliha, und warum wirst du rot, wenn du doch die Wahrheit sagst?
Timur drückt seine Zigarette aus und sagt mit schneidender Stimme:
– Gül, ich möchte so etwas nie wieder hören.
Jetzt ist Gül ganz still und nickt. Was soll sie sonst tun. Ihre Großmutter murmelt kopfschüttelnd noch einige Worte, die
niemand versteht. Kurz darauf geht Timur auf das Klo, Gül folgt ihm und hockt sich in der Dunkelheit im Hof vor die Klotür.
Das hat sie schon lange nicht mehr getan. Ich war es nicht, ich war es nicht, gleich werde ich es ihm sagen, denkt sie, aber
sie bekommt kein Wort heraus.
Als ihre Mutter sie später ins Bett bringt, sagt sie:
– Gül, du darfst nicht lügen und darfst nicht klauen. So |81| etwas tun nur schlechte Menschen. Wir machen so etwas nicht … Hast du mich verstanden, Gül?
Gül nickt. Was soll sie sonst tun? Sie kann nicht schlafen und fiebert dem Morgen entgegen. In der Schule geht sie sofort
zu Özlem.
– Hast du erzählt, ich hätte getrockneten Traubensaft mit in die Schule gebracht?
– Ja, sagt Özlem.
– Aber … aber warum? Das habe ich doch gar nicht getan.
– Natürlich hast du das, ich habs doch gesehen.
An diesem Tag geht Gül zum ersten Mal in der Mittagspause nicht heim, sondern setzt sich an eine einsame Stelle am Bach. Sie
fühlt sich, als hätte jemand eine Tür geöffnet, und von draußen wehte ein eisiger Wind herein, der ihr bis ins Mark drang.
Und sie weiß, daß sie über die Schwelle treten muß. Sie hat keine Wahl.
Alle haben gelogen. Sie weiß die Wahrheit, aber sie kann sie nicht teilen. Sie ist allein. Zum ersten Mal in ihrem Leben ist
sie ganz allein. Es gibt niemanden, zu dem sie gehen könnte, niemanden, der ihr glauben wird. Allein.
Wenn es einmal soweit gekommen ist, hört es nie wieder ganz auf, aber das weiß sie noch nicht. Sie sitzt auch in den nächsten
Tagen mittags am Bach, sie kann an nichts anderes mehr denken als an diesen getrockneten Traubensaft. Wie ist das möglich,
daß Özlem sagt, sie habe gesehen, wie Gül getrockneten Traubensaft in der Schule verteilt, wenn sie es doch nicht getan hat?
Was kann sie tun, damit ihr jemand glaubt?
Am dritten Abend, nachdem ihre Großmutter gelogen hat, nimmt sie ihren Vater an der Hand und führt ihn in die Küche. Wenigstens
er muß ihr glauben. Gül zeigt hoch zu dem Regal, auf dem der getrocknete Traubensaft liegt.
– Wie soll ich da hochkommen? fragt sie Timur.
Sie haben keinen Tisch, sie haben nur einen alten, schweren Holzstuhl, der in dem anderen Zimmer steht und den Gül kaum bewegen
kann.
Timur schaut hoch auf das Regal, runter auf seine Tochter, |82| noch mal hoch, legt die Stirn in Falten, entspannt sie nach einigen Sekunden wieder und nickt.
– Ich habe verstanden, sagt er.
Es folgt ein leichtes Kopfschütteln, dann nimmt er Gül auf den Arm und trägt sie ins warme Zimmer und kitzelt sie mit seinem
Schnurrbart und flüstert ihr ins Ohr:
– Ich weiß, daß du es nicht getan hast, ich weiß es. Die anderen werden uns nicht glauben. Aber wir beide, wir wissen jetzt,
daß mein Mädchen nicht klaut. Nicht wahr? Und das ist doch das Wichtigste, daß wir beide das wissen.
Er kann nicht nur nicht beweisen, daß Gül es nicht war, sondern er kann auch seine Mutter nicht beschuldigen, gelogen zu haben.
Am nächsten Tag ist Gül wieder am Bach, doch dieses Mal steht sie mit beiden Füßen im kalten Wasser und tastet mit den Händen
das steinige Bachbett ab. Timur ist mit schlechter Laune heimgekommen, seine Hosen sind naß gewesen, und er hat nach Alkohol
gerochen.
– Gottverflucht, hat er gesagt, ich habe meine Uhr verloren. Ich hatte sie nicht an der Kette festgemacht, und als ich über
den Bach wollte, ist sie mir aus der Westentasche gefallen. Gottverflucht, meine Uhr ist weg, das Wasser hat sie mitgenommen,
das Wasser hat mir meine Uhr gestohlen.
Es gibt in jenen Zeiten nicht viele Menschen, die eine Uhr haben, und alle anderen Eltern in der Straße orientieren sich immer
an Timurs Töchtern, wenn sie ihre Kinder pünktlich zur Schule schicken wollen. Sind Gül und Melike unterwegs, ist es Zeit.
Nicht nur Timur ist stolz auf diese silberne Uhr.
– Wo hast du sie verloren, hat Gül gefragt, zeig mir die Stelle.
– Sie ist weg, hat ihr
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