Die Tochter des Schmieds
Schwester nicht bemerkt, daß es sie Mühe kostet, ihr eigenes Lachen zu
unterdrücken. Es hat tatsächlich komisch ausgesehen, Gül hat fasziniert hingesehen, aber gleichzeitig hat es sie abgestoßen.
– Wieso gemein? fragt Melike. Selber schuld, wenn sie sich fangen läßt.
Gül entwickelt sich immer mehr zum Liebling ihres Vaters. Er hat sie gern um sich,
meine Tochter, die meine Uhr gefunden hat
, nennt er sie oder auch
die Tochter des Schmieds Timur
, er nennt sie
Schatz
und
meine Rose
und
Glanz meiner Augen
, wie ihre Mutter es häufig getan hat. Oft nimmt er sie mit, wenn er etwas zu tun hat, er freut sich, wenn sie in die Schmiede
kommt. Egal, worum er sie bittet, sie sagt nie, sie habe keine Lust, wie Melike es häufig tut. Und so geht sie auch diesen
Herbst drei- oder viermal mit ihm Laub fegen in dem großen Apfelgarten, der ein Stück abseits von den Sommerhäusern liegt.
Nach dem ersten Mal hat Gül Angst, bevor sie sich |95| überhaupt auf den Weg machen. Dabei ist es nicht die Arbeit, die sie schreckt.
Als sie beim ersten Mal im Garten angekommen sind, sagt ihr Vater:
– Versuch mal, das Laub hier in der Ecke zusammenzurechen. Ich muß nur mal kurz zum Bauern Aras.
Und er zeigt auf eine winzige Stelle, und Gül recht das Laub zusammen, mehr als sie soll, aber schließlich hört sie auf. Es
ist still. Jedes Knistern und Knacken läßt sie hochfahren. Ihr Vater ist lange weg, sehr lange. Wenn sie nicht alles täuscht,
wird es gleich anfangen, zu dämmern, und dann wird es dunkel sein, und sie wird sich nicht trauen, allein heimzugehen. Sie
weiß, daß ihr Vater kommen wird, aber jetzt ist sie trotzdem so allein, wie sie es noch nie war. Selbst wenn sie allein im
Garten spielt oder beim Verstecken eine abgeschiedene Ecke gefunden hat, weiß sie, daß da jemand in der Nähe ist. Bisher ist
sie sich noch nie verlassen vorgekommen.
Was soll sie tun, wenn jetzt ein böser Mann kommt. Wohin kann sie fliehen in diesem Garten?
Die Gärten sind nur durch niedrige Mauern aus Stein und Lehm voneinander getrennt, und Gül kauert sich an die Mauer und versucht,
sich ganz klein zu machen. Es dämmert tatsächlich schon, und Güls Angst wächst mit der einsetzenden Dunkelheit.
Als sie ihren Vater endlich sieht, in einem Licht, das ihr wie Halbdunkel vorkommt, aber in Wirklichkeit noch rot ist von
den gebrochenen Sonnenstrahlen, läuft sie ihm entgegen und umschlingt seine Hüften.
Timur hebt seine Tochter hoch, als würde sie nichts wiegen.
– Ich hatte Angst, sagt Gül.
– Aber wovor denn, sagt Timur, du brauchst doch keine Angst zu haben. Du wußtest doch, daß ich komme, oder?
Gül nickt, ja, das wußte sie, aber das nützt nichts.
– Ich hatte Angst, wiederholt sie leise.
– Hier gibt es nichts, wovor du Angst haben müßtest. Und schön, wie du das Laub gefegt hast, Glanz meiner Augen.
|96| Er versucht, das Thema zu wechseln, aber Gül ist den Tränen nahe, das kann er genau sehen, sie wird gleich anfangen zu weinen.
– Wovor hattest du denn Angst? fragt Timur noch mal.
Es ist eine namenlose Angst, sie hat keine Worte dafür, aber sie muß etwas sagen.
– Daß ich nichts zu essen habe, sagt Gül, ich hatte Angst, daß du noch später kommst und ich verhungere.
– Ich habe mich verquatscht, sagt Timur, ich wollte nicht so spät kommen.
Als er sie am nächsten Nachmittag fragt, ob sie mitkommt, sagt Gül trotz allem ja. Timur packt Brot und Käse ein, damit seine
Tochter sich nicht ängstigen muß. Es könnte sein, daß er wieder kurz weggeht. Was an diesem Tag nicht geschieht, aber dafür
einige Tage später. Mit Brot und Käse und Oliven läßt er seine Tochter im Garten zurück, weil er schnell zur Mühle reiten
will.
Dieses Mal wird Gül ihre Angst verbergen müssen, wenn ihr Vater zurückkehrt. Sie kann ihm nicht erklären, woher diese Angst
kommt. Sie kauert sich wieder an die Mauer, und schon nach kurzer Zeit glaubt sie, Schritte zu hören und auch Stimmen. Sind
das wirklich Stimmen? Sind das etwa böse Menschen? Gül wagt kaum zu atmen. Die Schritte und Stimmen werden lauter, es sind
Frauenstimmen, doch das beruhigt Gül nicht.
– Laß uns erst mal in Ruhe eine rauchen, bevor wir anfangen, sagt die eine.
Sie sind offensichtlich im Nachbargarten, nicht weit von der Stelle, an der Gül sich versteckt, denn jedes Wort ist deutlich
zu hören, und auch die Geräusche, als sie sich setzen, sogar das Anreißen des Streichholzes. Gül atmet
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